hr2 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Nicht allein sein und doch frei sein

Nicht allein sein und doch frei sein

Morgens früh vor dem Lift in einem Bürogebäude. Der Aufzug kommt und kommt nicht. Eine kleine Menschenmenge hat sich versammelt und wartet ungeduldig. Endlich ist der Aufzug da. Alles drängt und schiebt hinein, um noch einen Platz zu kriegen. Da steht man nun zusammengepfercht in der Liftkabine, auf Tuchfühlung mit dem Nächsten.

Von der einen Seite riecht man den Schweiß eines gehetzten Weges zur Arbeit. Von der anderen Seite dringt der Duft des üppig verwendeten Aftershaves. Man versucht, unauffällig möglichst flach zu atmen und keine Miene zu verziehen. Unfreiwillig starrt man auf die Schuppen auf dem Anzug des Vordermanns. Die Nebenfrau steigt einem mit ihrem spitzen Absatz auf den Fuß.

Mehr menschliche Nähe, als einem lieb ist. Von „Freude, schöner Götterfunke, alle Menschen werden Brüder“ – und natürlich auch Schwestern – ist hier wenig zu spüren. Schon eher möchte man sich die anderen vom Leib halten. Mit der rechten Dosierung von Nähe und Distanz im Leben ist das so eine Sache.

Mal fühlt man sich schmerzlich einsam auf sich geworfen und sehnt sich nach Nähe, Zuwendung, Aufmerksamkeit, nach einem Menschen an der Seite. Und dann wieder rückt einem der fremde oder vertraute Nächste zu nahe. Selbst mit dem liebsten Menschen kann das so sein: Man will sich nahe sein und gerät dabei in Gefahr, aufeinander zu sitzen, sich gegenseitig die Luft zum Atmen zu nehmen.

Hört das irgendwann mal auf, das Hin und Her zwischen Nähe und Distanz? Gibt es das irgendwo, irgendwann, irgendwie, was Hildegard Knef besungen hat: „Nicht allein sein und doch frei sein.“ Am Sonntag war Ostern, das Fest der Auferstehung von den Toten. Seit Kindertagen frage ich mich, ob das in der Ewigkeit  auch ein Drängeln und Schieben geben wird, wenn die Verstorbenen aller Zeiten auferstehen. Himmel wegen Überfüllung geschlossen – kann das sein?

Kindliche Frage, die ich mir auch als Erwachsener nicht einfach beantworten kann. Aber ich habe seit meinen Kindertagen mehr Erfahrung und mehr Sehnsucht gesammelt, wie es sein könnte mit Nähe und Distanz. Der Dichter Nâz?m Hikmet schrieb: „Leben einzeln und frei wie ein Baum und dabei geschwisterlich wie ein Wald, diese Sehnsucht ist unser.“

Das beschreibt für mich ein Stück Himmel auf Erden: Platz zum Leben, Atmen und Wachsen für mich haben und zugleich in Verbindung mit anderen sein, im Geäst meines Lebens mich mit ihnen zart berühren. Mich entfalten, ohne andere zu verdrängen, ohne ihnen etwas wegzunehmen, sondern so, dass jeder für sich sein kann und wir zugleich gemeinsam ein lebendiges Ganzes bilden. Ein Ganzes, das Schutz bietet. Und Gelegenheit schenkt nicht allein zum Arbeiten, sondern auch zum Spielen und Träumen.

Und das nächste Mal, wenn mir die lieben Nächsten im überfüllten Aufzug zu viel sind, nehme ich halt die Treppen.