hr2 ZUSPRUCH
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Eine Sendung von

Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Kein schöner Land

Kein schöner Land

Christa Wolfs letztes Buch, „Stadt der Engel“, ist ein Buch voll psychischer Krisen. Eine amerikanische Stiftung hatte die Autorin in den frühen 90er Jahren zu einem Forschungssemester nach Los Angeles eingeladen, und Christa Wolf nutzte die fremde Umgebung, um sich mit den Brüchen in ihrem Leben zu konfrontieren. Und wie es bei einer Angehörigen des Jahrgangs 1929 nicht anders sein kann, ließ sich die deutsche Geschichte mit ihren Brüchen, Wegen, Irrwegen und Ungeheuerlichkeiten davon nicht trennen.

Von diesen Reflexionsprozessen erzählt das Buch und auch davon, wie schwer es ist, einer Depression standzuhalten, Folge dieser sehr deutschen Selbstbefragung. Die einen greifen dann zu Medikamenten. Die anderen zum Alkohol. Manche zum Gebet. Christa Wolf griff in einer besonders bitteren Nacht zu einem sehr ungewöhnlichen Mittel.
Sie fing an zu singen.

„Ich habe diese Nacht durchgesungen“, schreibt sie, „alle Lieder, die ich kannte, und ich kenne viele Lieder mit vielen Strophen. Zweimal trank ich noch einen Whiskey zwischendurch, aber ich wurde nicht betrunken…Ich sang. An jenem Tag im blauen Mond September, ich sang Glück auf Glück auf, der Steiger kommt, ich sang Es leben die Soldaten, so recht von Gottes Gnaden…ich sang Als wir jüngst in Regensburg waren, ich sang Am Brunnen vor dem Tore, ich sang Der Mond ist aufgegangen, ich sang Im Schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus, ich sang Das Wandern ist des Müllers Lust und Großer Gott wir loben dich…und Stehn zwei Stern am hohen Himmel und Guten Abend, gute Nacht und Kein schöner Land in dieser Zeit“ (1) Und so weiter und so weiter. Die Aufzählung allein der Liedanfänge läuft über drei Seiten. Bei der guten Textkenntnis der betrübten Sängerin hat der Liederschatz mühelos bis zum Morgengrauen gereicht. Danach schlief Christa Wolf ruhig ein und war nach dem Aufwachen wieder arbeitsfähig.

Die Geschichte zeigt nicht nur, wie sehr in der älteren Generation der Schatz deutscher Volkslieder noch verankert war und ist. Sie zeigt auch, welche Kraft im Singen steckt. Es hebt uns über uns selbst hinaus. Setzt Kräfte frei, die sich der Rationalität entziehen. Verwandelt die Singenden und damit auch die sogenannte Wirklichkeit. Im Singen stecken Selbstheilungskräfte.

Wir tun also gut daran, dafür zu sorgen, dass unsere Hausapotheke auch einen Liederschatz enthält, auf den wir in der Not zurückgreifen können. Für mich gehören Kirchenlieder unverzichtbar dazu, vor allem die Morgenlieder, die das Immer-wieder- neuwerden feiern. Darf ich Ihnen eines vorschlagen? „Die helle Sonn` leucht` jetzt herfür, fröhlich vom Schlaf aufstehen wir. Gott Lob, der uns auch diese Nacht behütet vor des Teufels Macht.“ (2)

 

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(1) Christa Wolf, Stadt der Engel oder The overcoat of Dr. Freud. Suhrkamp Berlin 2010, S.249 f

(2) Evangelisches Gesangbuch für die EKHN Nr. 437