Die längsten Tage
Wir haben zurzeit die längsten Tage des Jahres. Noch eine Woche dehnen sich die Tage immer weiter in die Nacht hinein aus. Dann kommt am 21. Juni, heute in sieben Tagen die Sommersonnenwende - Mittsommernacht. Der längste Tag und die kürzeste Nacht. Und schon geht es wieder abwärts. Das Jahr hat schon fast seinen Zenit erreicht.
Der Sommer hat gerade erst begonnen, da schwenkt das Jahr in seine zweite Hälfte und baut bald wieder Sonnenzeit ab. Mich beschleicht da immer ein bisschen Wehmut. Es hat einen Beigeschmack von Niedergang und Vergänglichkeit, dass nun schon wieder Halbzeit für 2012 eingeläutet wird. Sommer – das steht für die üppige Jahreszeit, für die volle Blüte des Lebens. Alles strotzt vor Grün, alles entfaltet sich. Der Tag lässt sich nicht einfach von Dunkelheit oder Kälte verdrängen. Bis in die Nacht hinein kann das Leben nach draußen strömen. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht, drinnen und draußen verfließen.
Die Welt im Sommer ist satt und voll, frei und mit dem Versprechen von Unbeschwertheit. Wenn man sich nicht gerade in Anzug oder eng sitzendes Kostüm oder einen Arbeitskittel werfen muss, kann man die schweren Kleidungsstücke im Schrank lassen. „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“, hat die Dichterin Ingeborg Bachmann einmal geschrieben. Ist es so, dass alles Lichte, Leichte schnell wie ein Sommernachtstraum vergeht? Und das Schwere, Dunkle zieht sich zählebig wie ein Winter, der nicht vergehen will?
Im Sommer ist es eine Lust zu leben. Und alle Lust will Ewigkeit, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche meinte. Der Sommer ist in Gedichten und Liedern ein Sinnbild für Ewigkeit. Sommer weckt die Sehnsucht, dass das Leben ohne Ende so sein könnte: hell und warm, auf der Höhe der Kräfte und Möglichkeiten. Licht durchflutet und ohne den Schatten, dass diese Hülle und Fülle bald schon wieder vorbei ist.
„Geh aus, mein Herz“ ist das Sommerlied schlechthin im Kirchengesangbuch. Der evangelische Dichter Paul Gerhardt hat es geschrieben: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben.“ Ich male mir das gerne aus: Mein Herz hopst vor lauter Freude in die Welt hinein und entdeckt, was dieses Leben alles hergeben kann. Die „liebe Sommerzeit“ ist ein Vorgeschmack der Ewigkeit. Wenn mein Herz schon jetzt so viel sommerliche Seligkeit entdeckt, dann könnte es sich das doch auch länger - vielleicht, ganz vorsichtig - ewig vorstellen.
Ewigkeit stellt man sich oft langweilig vor. Warum nicht: Ewigkeit wie ein Sommertag, sonnendurchleuchtet. So legen mir diese längsten Tage im Jahr, die wir zurzeit haben, ein Stück Ewigkeit ins Herz.