Die eigene Würde bewahren
Man darf nicht hassen, sagt sie. Der Mensch darf einfach nicht lernen zu hassen, sagt Alice Herz-Sommer (geboren 1903), heute über hundert Jahre alt. Und dabei hätte gerade sie allen Grund zu hassen. Geboren ist sie als Jüdin in Prag, dort wird sie eine Pianistin, eine begnadete überdies. 1942 wird Alice mit ihrer Familie in ein Konzentrationslager verschleppt. Ihre Mutter stirbt. Ihr Ehemann auch. Mit ihrem kleinen Sohn überlebt sie das Lager, weil sie Klavier spielen kann. Denn auf Befehl der Lagerleitung muss sie Klavierabende im Konzentrationslager geben, damit die Stimmung dort nicht zu schlecht wird. Nach ihrer Befreiung lebt Alice Herz-Sommer in Jerusalem, später bei ihrem Sohn in London. Dort schreibt sie ein Buch* über ihr zum Teil tragisches Leben. Ganz am Ende des Buches steht ihr Bekenntnis: Man darf nicht hassen. Der Mensch darf einfach nicht lernen zu hassen.
Das ist ein stolzer Satz. Die Frau bewahrt sich ihren Stolz in allem Schmerz, den sie erleidet. Und ihre Würde bewahrt sie auch, finde ich. Obwohl sie allen Grund hätte zu verachten und zu hassen, will sie das gar nicht erst erlernen. Wer hasst, macht sich gemein mit den Menschen, die andere nur demütigen und verachten. Wer hasst und auf Rache sinnt, stellt sich auf die gleiche Stufe wie die, die anderen nur Übles wollen. Wie gerne würde ich doch manchmal mit der Faust richtig auf den Tisch hauen. Wie sehr juckt mich manchmal ein Gegenschlag in den Fingern, das gebe ich zu. Soll man denn anderen wirklich alles durchgehen lassen? Darf man sich denn niemals wehren?
Doch, das darf man. Man soll nicht alles durchgehen lassen. Es kommt allerdings darauf an, wie ich mich wehre. Zutiefst weiß ich ja: Hass oder Gewalt helfen zu gar nichts. Hass erzeugt immer nur noch mehr Hass. Und zu hassen zerfrisst und zerstört mich selber mehr als die, die ich damit treffen will. Es gibt nur eine Möglichkeit, eine unheilvolle Kette zu unterbrechen, nämlich: nicht zu hassen. Sich seine Würde zu bewahren und das Böse nicht mit Bösem, sondern möglichst mit Gutem zu beantworten (Neues Testament, Römerbrief Kapitel 12, Vers 21). Das ist leider keine Garantie für gar nichts. Kein Mensch wird durch meine Wohltaten plötzlich gut und milde, wenn er jahrelang Böses getan hat. Aber nicht zu hassen, möglichst ruhig oder gut oder doch gelassen zu bleiben ist meine einzige Möglichkeit, die Kette des Bösen zu unterbrechen und einen bösen Menschen vielleicht zur Besinnung zu bringen. Und außerdem - man behält die eigene Würde. Und das allein ist ja schon viel wert.