Unter der Palme
Die Abbildung von Palmen löst bei vielen Menschen Urlaubsgefühle aus, eine Sehnsucht nach Unbeschwertheit, einen Traum vom Glück. Aber die Palme, ein uralter Kulturbaum, hat mehr und anderes zu erzählen. In alten Zeiten war der Palmbaum das Symbol für Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Ein Psalm sagt: “Der Gerechte sprosst wie der Palmbaum; er wächst hoch hinauf, und seine Früchte sind noch im Alter saftvoll und frisch. (Ps.92,13)
So wundert es nicht, wenn eine Palme auch Ort der Rechtssprechung wurde. Das ist eine besondere Geschichte aus der Frühzeit Israels, als die zwölf Stämme noch keinen König hatten. Stattdessen wählten sie sogenannte Richter. Sie hatten die Streitfälle zwischen den Stämmen zu schlichten, sprachen Recht bei Straftaten und führten im Kriegsfall auch das Heer an.
Unvermittelt tritt eine Frau auf diese Bühne. Da heißt es: „Zu der Zeit war Richterin in Israel die Prophetin Debora.... Und die Israeliten kamen zu ihr hinauf zum Gericht.“ (Ri. 4,4+5) Dabei saß Debora im Schatten einer Palme. Ihre Hauptaufgabe war, einen Krieg gegen den bedrohlichen Nachbarkönig zu leiten. Debora hatte Erfolg. Das feindliche Heer wurde vernichtet.
Immer wieder tauchen unvermittelt bedeutende Frauen in der patriarchalen Welt auf. Jahrhunderte lang galt unverbrüchlich, dass der Mann die Krone der Schöpfung ist. Einzelne Frauen widerlegten dieses diskriminierende Vorurteil. Wir können an Hildegard von Bingen denken, an die heilige Elisabeth von Marburg, an tüchtige Regentinnen oder die ungezählten Frauen, die tapfer den Alltag meistern. Sie beweisen, dass die männliche Vorherrschaft keineswegs naturgegeben oder gar gottgewollt ist. Die Palme Deboras, der Ort der Gerechtigkeit, steht auch dafür ein.
Für die Christenheit hat die Palme noch eine besondere Bedeutung. Der Palmsonntag trägt ihren Namen. Denn als Jesus mit den Jüngern in Jerusalem einzieht, wird der berühmte Mann von einer großen Volksmenge bejubelt. „Sie nahmen Palmzweige und zogen hinaus, ihm entgegen und riefen: ‚Hosianna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn und der der König Israels ist.“ (Joh. 12,12-13) Doch bald schlägt die Stimmung um; Jesus wird verhaftet, und eine aufgehetzte Volksmenge schreit: „Kreuzige ihn!“
Längst sind die Jünger geflohen und haben sich versteckt. Aber auf dem Weg zur Hinrichtung folgen ihm Frauen, seine Anhängerinnen. Denn Jesus war ein Freund der Frauen. Die patriarchalen Regeln, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse machten, hatte er durchbrochen.
Als falscher König wurde er schmachvoll hingerichtet. Für die Frauen aber war er der König der Herzen; er wurde es für die ganze Christenheit. In diesem Sinne sind die Palmzweige vom triumphalen Einzug in die heilige Stadt niemals verwelkt. Sie künden vom Sieg über Willkür, Gewalt und Tod. Die königliche Herrschaft Jesu bedeutet Gerechtigkeit für die Armen und Verachteten und die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Deboras Palme hat würdige Nachfolger gefunden.