Sklaverei
In Tunesien hat das Volk ein diktatorisches Regime gestürzt. Die Menschen kämpfen für ihre Grundrechte. Mich bewegen die Ereignisse, obwohl ich doch letztlich nichts mit ihnen zu tun habe.
Ich selbst war noch nie in Tunesien. Eine Großtante hat jahrzehntelang jeden Winterurlaub auf Dscherba verbracht. Unsere Nachbarn haben vergangenes Jahr dort ein Ferienhaus gemietet. Und einer meiner Cousins war während der 80er Jahre mal kurzzeitig dort im Internat.
Keiner von ihnen hat jemals erzählt, dass Tunesien eine Diktatur hatte. Vermutlich haben sie es gar nicht mitbekommen.
Tunesien ist ja auch ziemlich weit weg. Die wenigsten von uns hier in Europa kennen jemanden von dort, die meisten wissen nur wenig über das Land. Es ist ganz normal, dass man sich erst einmal um die eigenen Probleme kümmert und sich nicht die Sorgen anderer macht. Einerseits.
Andererseits gehen uns die Probleme von Menschen auf anderen Kontinenten sehr wohl etwas an. Sie sind Menschen wie wir, und sie haben auch die gleichen gottgegebenen Rechte wie wir.
So jedenfalls dachten die so genannten Abolitionists, fromme evangelikale Briten und US-Amerikaner. Der Name heißt übersetzt: Die, die sich für die Abschaffung einsetzen, die Abschaffung der Sklaverei.
Ihre Mitbürger sagten: „Was regt ihr euch so darüber auf, was in Afrika und in den Südstaaten der USA passiert? Kümmert euch doch lieber um eure eigenen Probleme.“ Oder es hieß: „Ihr kennt doch nicht einen einzigen Sklaven persönlich, warum setzt ihr euch für sie ein?“
Was die Mitbürger sagten, ist ja auch irgendwie richtig – oft denke ich selbst ja auch so. Und doch nötigt mir das Engagement der Abolitionists großen Respekt ab.
Sie argumentierten eigentlich schlicht, aber gleichzeitig effektiv. Sie sagten: „Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Jeder Mensch ist, so wie er geschaffen ist, erst einmal gewollt und geliebt.“
Weil sie das glaubten, führten sie diesen Kampf gegen das Unrecht. Einen Kampf übrigens, den außer den frommen Christen aus Großbritannien und Nordamerika niemand sonst übernahm, schon gar nicht so ausdauernd. Die viel gerühmten Aufklärer haben jedenfalls wenig bis gar nichts gegen die Sklaverei unternommen.
Die Abolitionists kämpften über viele Generationen. Sie erzielten viele kleine Etappensiege. Einer davon ist eine Erklärung heute vor 175 Jahren, mit der sich der Wiener Kongress damals gegen den Sklavenhandel wendete. Es war eine Erklärung für die Rechte von Menschen, die niemand im Verhandlungssaal kannte, und mit denen keiner jemals etwas zu tun hatte. Es ging um Grundrechte. Und da ist es egal, ob man die Leute kennt.
Dieser Kampf hat schließlich dazu geführt, dass die Sklaverei fast überall auf der Welt geächtet wird. Sklaven gibt es heute noch immer, Menschen, die aller Grundrechte beraubt werden. Es ist ein Skandal, und wer etwas dagegen unternehmen kann, sollte das tun.
Aber diese Christen haben auch etwas anderes bewiesen. Dass es für uns in Europa wichtig ist zu erfahren, was in anderen Erdteilen geschieht. Unter welchen Umständen Menschen leben, welches Unrecht sie erleiden. Denn auch diese mir unbekannten Menschen sind als Gottesgeschöpfe gewollt und geliebt.
Es ist ja schon einmal ein erster Schritt, dass wir heutzutage so gut informiert sind – über die Nachrichten gleich um 7 Uhr zum Beispiel, übers Internet und die Zeitung.
Der nächste Schritt ist da nicht mehr weit. Vielleicht kommt ja irgendwann mal jemand auf mich zu – vielleicht ein Tunesier, oder ein Ägypter, oder ein Iraner – und sagt: „Du kannst mir helfen. Es geht um meine Grundrechte“. Dann weiß ich wenigstens schon mal Bescheid.