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Eine Sendung von

Hochschulpfarrerin an der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz

Lebenskrise

Lebenskrise

Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Mann das erste Mal in meine Sprechstunde kam: Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sein Gesicht war blass, die Stirn lag in tiefen Furchen: „Ich kann nicht mehr!“, sagte er ohne lange Vorrede. „Ich kann nicht mehr essen, ich kann nicht mehr schlafen, und ich weiß nicht mehr weiter. Deshalb bin ich hier.“

Der Mann war etwa 50 Jahre alt. Er war Abteilungsleiter in einer Bank, verdiente gut, war beruflich erfolgreich, hatte eine Ehefrau und zwei Kinder.

Aber aufgrund einer Umstrukturierung in der Bank musste er nun schon eine ganze Weile 12 bis 13 Stunden pro Tag arbeiten. Zuhause war er so erschöpft, dass er außer Fernsehen nichts mehr schaffte. Und dann eröffnete ihm seine Frau, dass sie ihn verlassen würde. Sie hatte sich schon seit einiger Zeit in einen Anderen verliebt.

Dieser scheinbar so souveräne Mann saß mir gegenüber und weinte. Er fühlte sich ausgebrannt und leer. Seine Erschöpfung und Verzweiflung erinnerten mich an den Propheten Elija, der in Israel Gottes Wort verkündet hatte. So steht es im Alten Testament.

Jahrelang hatte Elija gerackert, gearbeitet und versucht seinen Auftrag hundert prozentig zu erfüllen. In Gottes Namen kritisierte er die Herrschenden und stellte sich ihnen entgegen. Die hörten aber nicht auf ihn, sondern hetzten ihm Soldaten auf die Fersen, die ihn töten sollten. Seitdem war Elija auf der Flucht. Erschöpft und verzweifelt setzte Elija sich schließlich unter einen Ginsterbaum am Rande der Wüste. Er konnte nicht mehr und wusste nicht mehr weiter. Er wollte nur noch alles hinter sich lassen und am liebsten sterben.

Genauso fühlte sich der Mann, der vor mir saß. Wie Elija war er so weit unten, dass er es fast herausschrie: „Ich kann nicht mehr!“ Es war ein großer Schritt für ihn, dass er das zugeben konnte. Und die Welt ging nicht unter, stellte er erleichtert fest. Danach kam der Mann eine Zeitlang ganz regelmäßig zu mir. Es gab keinen Zaubertrank, der sein Leben schnell und lautlos wieder ins Lot brachte. Aber es half ihm, dass er zu mir kam und sich sortieren konnte. Ich hörte ihm zu, fragte nach, hielt mit ihm aus, dass es keine schnellen Lösungen gab. Schließlich beantragte er eine Kur, um für einige Zeit dem Alltagsstress zu entkommen. Damit gestand er öffentlich ein, dass er Hilfe brauchte. Er lernte wieder essen und schlafen. Er schaute sich sein Leben von einem anderen Ort aus an, haderte und schimpfte mit sich und der Welt und wurde langsam ruhiger. Schließlich lernte er mühsam, sich wieder selbst zu spüren.

Elija hatte unter dem Ginsterbaum seine Verzweiflung vor Gott zugegeben. Auch für ihn war es ein riesiger Schritt gewesen, denn er war bisher ja immer so mutig und stark gewesen und sollte doch die Menschen retten. Aber er konnte niemanden mehr retten, am allerwenigsten sich selbst. Und Gott hörte Elija und schickte ihm einen Engel. Er brachte ihm Essen und Trinken. Er berührte ihn, und ermutigte ihn, nicht aufzugeben. Gestärkt und ermutigt stand Elija tatsächlich auf und wanderte 40 Tage und 40 Nächte allein durch die Wüste. Er kämpfte mit der Krise, schwankte, zweifelte, sprach mit sich selbst und schimpfte mit Gott. Schließlich fand er zu sich selbst zurück.

Der Mann, den ich begleitet habe, wusste zwar noch nicht, wie es weiter gehen würde, aber er fühlte sich nach der Kur gestärkt und wieder näher bei sich selbst. Für ihn war es eine wichtige Erfahrung, dass er am tiefsten Punkt seines Lebens zugeben konnte, dass er nicht mehr weiter wusste. Und genau dadurch eröffnete sich eine ganz neue Perspektive für ihn. „Ich hatte einen Schutzengel“, sagte er später. „Sonst hätte ich das nicht geschafft.“