Ein Teil der größeren Hoffnung
Werner ist oft in der Nähe des Elends. Da ist er nicht freiwillig, das gehört zu seinem Beruf. Werner ist Polizist und heute Mitte fünfzig. Er wollte immer nur eins: Polizist werden, die Dinge regeln, helfen und dabei eine Uniform tragen, die ihm gefällt. Nach zehn Jahren Dienst schwante ihm, dass es bei einem Polizisten um mehr geht als um die Regelung der Dinge. Es geht um viel Elend. Jetzt, nach über dreißig Dienstjahren, ist es offensichtlich. Es gibt nicht viel zu regeln, aber sehr viel auszuhalten. Mal wird er zu einem schlimmen Verkehrsunfall gerufen, dann zu einer Familientragödie. Mal überwacht er eine Demonstration und wird dabei noch beschimpft, dann wieder muss er in den dunklen Ecken der Stadt nachsehen, ob da einer nur schläft oder tot im Busch liegt. Werner, der Polizist, muss die auflesen, die betrunken sind oder die beruhigen, die sich betrogen fühlen. Nur selten kann er wirklich Ordnung schaffen oder Dinge gütlich regeln. Meistens ist er in der Nähe des Elends.
Wenn ich Werner zuhöre, kriege ich manchmal ein bisschen Gänsehaut. All das, was Werner erlebt und erleidet, gehört auch zu der Welt, in der Sie und ich leben. Wer Polizist ist und in die dunklen Ecken der Welt schauen muss, sieht die Menschen noch einmal anders als ich. Er sieht Menschen, die im Elend leben, die sich selber dorthin gebracht haben oder irgendwie hineingeschlittert sind. Ein Polizist sieht selten die schmucken Bürgerinnen und Bürger, die mit einem Lächeln durchs Leben ziehen, in feinen Häusern wohnen, von mehr als nur Bank geliebt werden und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Er sieht Elend, Menschen am Rande des Abgrunds oder schon mittendrin. Werner, der Dinge regeln wollte, die aus dem Ruder gelaufen sind, sieht Leben, das kaum mehr zu regeln ist, weil alles schon in Trümmern liegt.
Ich bewundere ihn für seine Arbeit, seinen Mut und seine Entschlossenheit, heute wieder zum Dienst zu gehen in die Nähe des nächsten Elends. Wie hält man das aus?, frage ich mich. Nur mit ein paar Stoßgebeten, sagt Werner. Und mit der Hoffnung, dass all das Elend nie alles ist, nicht das letzte Wort der Welt sozusagen. Auch wenn es schlimm ist. Das kann nicht alles sein, dieses Stückwerk an Gerechtigkeit, die Trümmer und das Ungeregelte. Die Hoffnung halte ich ganz fest, sagt Werner. Dass es eine höhere Gerechtigkeit gibt, die ich nicht sehe, nicht fühle, nicht erkenne. Aber manchmal ahnt er sie, wenn er in der Nähe des Elends ist. Dann sieht er die traurige Mutter, nimmt nur ihre Hand und denkt: Dass ich jetzt bei ihr bin und mich nicht schnell verdrücke, schon das ist ein Teil der größeren Hoffnung.