hr2 MORGENFEIER
hr2
Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Kostbare Zeit – dem Sinn der Jahre auf der Spur

Gesegnetes, neues Jahr! Es ist früh am Morgen des allerersten Tages und das ganze Jahr liegt noch vor uns! Das klingt nach Aufbruchstimmung. Aber die liegt nur bei den wenigsten in der Luft. Eher im Gegenteil. Die meisten wollen heute möglichst lange ausschlafen. Wer heute früh aufsteht, hat dafür triftige Gründe. Neujahr – das ist manchmal kein glanzvoller Tag, sondern kann ein müder Durchhänger sein mitten in den Winterferien.

Das Jahr beginnt also mit einer Pause. Und das ist gut so. Es gewährt Zeit zum Ausruhen. Und zum Nachdenken. Dabei steht ganz oben die Frage: Was muss passieren, damit 2015 ein „Frohes neues Jahr“ wird, wie es jetzt viele zu einander sagen? Manche wünschen auch ein „Gesegnetes neues Jahr“. Was ist damit gemeint? Wer darüber nachdenkt, stößt schnell auf die Frage aller Fragen. Die lautet: Wofür lohnt es sich zu leben?

Dem geht die folgende Geschichte nach. Es ist die Fabel vom Schmetterling, der sich auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens macht.

Musik: Ernest Bloch, Printemps, Deutsches Sinfonieorchester Berlin unter Steven Sloane

Der junge Schmetterling ist bereit. Er lässt seine Muskeln spielen. Gewaltig wackelt der Kokon, in dem er noch steckt. Plötzlich springt die Hülle auf und gibt den kleinen Schmetterling frei für ein neues Leben. Der streckt sich und spannt seine Flügel aus.

Mit ein paar Schlägen erhebt er sich in die Luft, noch etwas wackelig, aber schnell immer sicherer. Er spürt den Wind, sieht den blauen Himmel und das weite Land. Er fliegt eine große Runde und merkt, wie ihn eine nie gekannte Freude erfüllt – das Glück des neuen Lebens. Dann kehrt er auf den Boden zurück. Dort entdeckt er den leeren Kokon, seine alte Raupenhülle – Überrest einer vergangenen Zeit. Der Schmetterling begreift: Die alte Zeit ist zu Ende. Die neue hat zwar gerade erst angefangen. Aber auch sie wird irgendwann einmal enden. Das wühlt den Schmetterling auf und er fragt sich: Meine Zeit ist kostbar. Was soll ich damit tun?

Plötzlich hört der Schmetterling neben sich ein Summen. Es ist eine Biene. Die fliegt rastlos von Blüte zu Blüte. Der Schmetterling fragt sie. „Was tust du mit deiner Zeit?“ „Ich sammle köstlichen Blütenstaub – so viel wie möglich. Ich kann gar nicht genug davon kriegen, für meinen süßen Honig. Entschuldige mich, ich muss weiter – die Zeit drängt..“ Eilig fliegt die Biene davon, und so hört sie auch nicht mehr die Frage des Schmetterlings: „Warum eilst du dich denn so, wenn du jetzt schon weißt, dass du davon trotzdem nie genug bekommen wirst.“

So zieht der Schmetterling seines Weges und stößt auf einen Bach. Dort ist gerade ein Biber damit beschäftigt, einem Damm zu bauen. Emsig steckt er Äste und Zweige ineinander. Der Schmetterling fragt ihn: „Was tust du mit deiner Zeit?“ Der Biber unterbricht kurz seine Arbeit und verkündet: „Ich baue einen großer Staudamm. Das erfüllt mich mit Stolz und mit Freude. Dieser Staudamm wird mich überdauern. Ich sage immer `Fessle durch Taten die jagende Zeit! Schmiede den Tag an die Ewigkeit´“ Der Schmetterling ist beeindruckt. Etwas kleinlaut sagt er: „Aber ich kann keine großen Staudämme bauen …“

„Zum Glück“, entgegnet der Biber, „das mache ich ja schon. Du kannst etwas anders machen. Etwas, das zu dir passt.“ Spricht´s und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. Der Schmetterling fliegt weiter. Er will noch andere treffen, die er fragen kann: Was soll ich mit meiner Zeit tun, damit sie sinnvoll ist und gut?

Musik: Frederic Chopin, aus „Variation über ein Thema von Rossini“, Marc Grauwels, Flöte und Catherine Michel, Harfe

Auf seiner Suche nach dem Sinn des Lebens entdeckt der Schmetterling eine Eidechse. Die hat es sich auf einem großen Stein bequem gemacht. Genüsslich lässt sie sich von der Sonne den Rücken wärmen. Der Schmetterling nimmt neben ihr Platz und fragt sie nach dem Sinn ihrer Zeit. Die Eidechse entgegnet mit genießerischen Seufzen: „Frag´ nicht so viel. Du verschwendest deine Zeit mit Grübeln und Unruhe. Freue dich lieber an der Sonne. Wer weiß, wie lange sie noch scheint. Genieße den Augenblick. `Denke immer daran, dass es nur eine wichtigste Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt“ Der Schmetterling bleibt noch eine Weile sitzen und genießt die wärmenden Strahlen der Sonne. Aber dann merkt er: Er ist mit seiner Suche noch nicht am Ende. Also verabschiedet er sich und fliegt weiter.

Dabei wäre er fast mit einer Schwalbe zusammen gestoßen. Die zieht rastlos ihre Kreise durch die Lüfte und jagt nach Futter. Vier hungrige Schnäbel hat sie zu füttern und damit immer etwas zu tun. Neugierig schaut der Schmetterling zu und stellt dazu seine Frage. Die Schwalbe blickt auf ihre vier Jungen im Nest und erwidert: „Hier sitzt der Sinn meines Lebens. So wie einst ich als kleines Vögelchen gefüttert worden bin, so füttere ich nun meine Kleinen. Dann schreckt die Schwalbe auf: „Kinder, Kinder, wie die Zeit vergeht! Ich muss los.“ Und schon ist sie wieder weg.

Der Schmetterling staunt über so viel Mutterliebe, die er nicht kennt, und fliegt weiter. Dabei entdeckt er eine Katze, die um die Mauern eines großen Hauses streift. Die Katze hört sich die Frage des Schmetterlings an und grinst breit dazu. Dann sagt sie: „Über mein Leben bestimme ganz alleine ich. Ich jage, wenn ich jagen will. Ich schlafe, wenn ich schlafen will. Ich lasse mich streicheln, wenn ich das will. Und ich gehe wieder, wenn ich das will. Niemand bestimmt über mich. Ich bin frei.“

Der Schmetterling sieht, wie hinter der Katze eine Maus vorbeihuscht. Sie verschwindet in dem großen Haus. Der Schmetterling folgt ihr in die Kirche hinein und spricht sie an. Die Maus zeigt auf eine große Tafel an der Wand mit vielen Namen von Verstorbenen. Darüber steht ein Wort aus der Bibel, ein Psalmvers: `Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss´. Der Schmetterling zuckt zusammen. In diesen Worten steckt genau seine Frage. Die Maus flüstert: „Jeder Tag kann mein letzter sein. Und was kommt dann? Wie gut, dass hinter meinem kleinen Mäuseleben noch ein anderes steht – Gottes Ewigkeit. Darauf setze ich meine Hoffnung. Und das tröstet mich schon jetzt.

Der Schmetterling, jung wie er ist, kann das noch nicht so ganz verstehen. Aber verwirrt ist er, denn viele hat er nun schon gefragt und genauso viele Antworten hat er bekommen. Nur: Welche ist die richtige? Es zieht es hinaus in die Sonne, er will Leben um sich spüren. Erschöpft setzt er sich auf einen Zweig und überlegt. Allmählich begreift er: Die Antworten der anderen können nicht seine eigenen sein. Er beschließt: „Ich will das tun, was ich kann. Ich kann schön leuchten und damit anderen eine Freude machen. Ich kann von Blüte zu Blüte fliegen und dafür sorgen, dass es auch im nächsten Jahr wieder Blüten gibt. Ich kann fröhlich in der Luft tanzen und andere damit anstecken.“ Sprach´s, hob ab in die Luft, wagte ein fröhliches Tänzchen und vergaß dabei für eine ganze Weile alles andere um sich herum – auch seine Fragen.

So endet die Fabel vom Schmetterling, der sich auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens machte. Aber ich bin sicher: Bald wird die Suche nach dem Sinn des Lebens den Schmetterling wieder einholen. Und er wird sich die Frage stellen: Wie tragfähig ist ein Sinn, den man sich selbst gibt?

Musik: Mauro Giuliani, Große Sonate A-Dur op. 85, 4. Satz, Allegretto espressivo, Pau Meisen, Flöte und Reinbert Evers, Gitarre

Kann man den Sinn seines Lebens aus sich selbst heraus bestimmen? Viele glauben das. Die Fabel vom Schmetterling erzählt, wie es viele versuchen, jeweils auf ihre eigene Weise. Der Schmetterling war zu jung, um genauer nachzufragen: „Trägt dich dieser Sinn denn wirklich durch die Tage?“ Dann hätten sicher einige gesagt: „Ja, aber nicht immer. Es gibt auch die trüben Tage, an denen ist das Leben mühsam. Und dann ist sein Sinn nicht zu erkennen.“ Solche Tage dürfte wohl jeder schon erlebt haben.

Woher könnte dann der Sinn des Lebens kommen? Man kann ihn sich schenken lassen – von Gott. Davon handelt dieser Vers aus dem Evangelischen Gesangbuch:

„Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit.
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.“
(EG 395,2)

Ich finde: Dieser Vers hat Kraft, er verströmt auch ein bisschen Aufbruchstimmung. Zugleich strahlt er eine tiefe Gelassenheit aus. Es wendet sich an alle, die sich allein gelassen fühlen. Ihnen sagt der Vers: Gott wird dich begleiten. Der Vers wendet sich auch an alle, die nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Sie bekommen Mut zugesprochen: Gott wird dir einen Weg weisen, den du gehen kannst. Und schließlich: Denen, die sich nutzlos fühlen, sagt der Vers, dass Gott sie braucht: Seid ein Segen für die Erde!

Ich finde: Das klingt großartig. „Seid ein Segen für die Erde!“ Aber es ist – zugegeben – auch ein bisschen unklar. Was ist mit Segen gemeint? Was genau meine ich, wenn ich Leuten wünsche: „Gesegnetes neues Jahr“?

Segen ist die Kraft Gottes, die in unser Leben eingreift.
Segen ist wie ein Rückenwind, wenn der Lebensweg zu steil wird.
Segen ist wie tief empfundenes Glück, wenn man von jemandem geliebt wird.
Segen ist wie eine zündende Idee, wenn man ratlos ist.
Segen ist eine Schale Essen in der Hungernot.

Und vieles mehr, denn Gott hat unendlich viele Ideen, um seinen Segen zu zeigen. Aber eine Idee ist immer dabei: Gottes Wunsch: Freue dich an meinem Segen und gib ihn dann weiter. Sei ein Segen für andere!

Musik: Michel Pignolet de Montéclair, aus Troisème Concert, Air, 1. Und 2. Pastouelle des Fêtes de L’été, Hedos-Ensemble

Sei ein Segen für andere! Könnte das auch eine Antwort für den Schmetterling sein, der auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist? Was könnte passieren, wenn er die anderen Tiere danach gefragt hätte: „Bist du ein Segen?“ Da ist die Biene, die vom Honig nie genug bekommen kann. Die würde vermutlich auch vor dieser Frage davon fliegen.

Aber was wäre mit dem fleißigen Biber, der an seinem Staudamm baut? „Bist du ein Segen?! Der Biber könnte antworten: „Ja. Ich schaffe Lebensraum für mich und meine Familie und für viele andere Tiere. Für sie alle bin ich ein Segen.“

Und die Eidechse, die behaglich auf ihrem warmen Stein sitzt und die Sonne genießt? Vielleicht würde sie mit einem Psalm antworten und sagen: „`Gott der Herr ist Sonne und Schild, der Herr gibt Gnade und Ehre´. Du siehst, kleiner Schmetterling: Gott berührt mich mit den Strahlen seiner Sonne. Was kann ich besseres tun, als das zu genießen?! Alles Leben und aller Sinn gehen von ihm aus. Mehr brauche ich nicht“

Und was ist mit der Schwalbe? Ist sie ein Segen? Sie würde sicher sagen: „Meine Kinder sind ein Segen für mich. Und hoffentlich ich auch für sie. Wenn ich sie mir anschaue, dann sehe ich in ihnen auch etwas von Gott.“

Bleibt noch die Katze – die freie. Sie würde wohl sagen „Bei mir weiß jeder in jedem Moment, wo er dran ist. Ich belüge niemanden. Das ist in unserer Welt voller Lügen schon ein Segen.“

Vermutlich wäre der Schmetterling wieder verwirrt. Denn wieder sind die Antworten ganz unterschiedlich. Doch haben sie eines gemeinsam. Sie beschreiben einen Sinnzusammenhang. Er entsteht, wenn diese drei fest zusammen gehören: Erstens das eigene Leben. Zweitens Gott und drittens andere Menschen und Geschöpfe. Diese drei gehören fest zusammen. Nur zusammen ergeben Sie einen Sinn. Und der kann sich ganz unterschiedlich zeigen.

Was verbindet die drei – Gott, das Leben, die anderen? Das beschreibt die Bibel mit Gottes Liebe. Wer sie am eigenen Leib erfährt, kann selber lieben – sich und andere. Das gilt übrigens auch andersherum: Wer andere Menschen liebt, der liebt in ihnen auch Gott.

Der Evangelist Matthäus zitiert Jesus so: „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ So eng verknüpft sind Gott, Mensch und Mitmensch – Daraus sprudelt für Christen die tiefste aller Sinnquellen. Und das Beste ist: Sie ist immer da. Allerdings kann es passieren, dass man sie aus den Augen verliert. Und dann?

Musik. Claude Debussy, aus „Six epigraphes antiques“, Orchestre National de Lyon unter Jun Märkl

Manchmal verliert man den Sinn seines Lebens aus den Augen. Der Dreiklang vom eigenen Leben, Gott und den anderen verstummt. Gott ist verborgen, die anderen rücken weit weg und das eigene Leben trocknet aus. Dann kommen einem die Tage sinnlos vor und der Alltag wird mühsam. In diesem Moment ist wichtig zu wissen: Gott ist zwar verborgen – vielleicht sogar für längere Zeit. Aber er ist nicht weg. Er ist immer noch da. Und seine Liebe ist es auch. Wer danach sucht, findet manchmal Trost und Mut in Versen aus besseren Zeiten. Verse wie dieser:

„Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit.
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.“

Diese Verse erinnern daran: Gott ist da. Und er legt mit seinem Segen immer Spuren in die Welt. Und er lädt ein: Freue dich an meinem Segen und gib dann auch selber weiter. Sei ein Segen für andere! Aber wie geht das?

Ganz einfach: Wo immer es gelingt, das Leben anderer schöner zu machen, da zeigt sich Sinn und Segen. Wo immer es gelingt, Leiden zu lindern und Not abzuwehren, da zeigt sich Sinn und Segen. Wo immer es gelingt, Gottes Schöpfung wertzuschätzen, da zeigt sich Sinn und Segen.

Aber was ist, wenn ich das nicht schaffe? Bin ich dann gescheitert? Nein, denn Gott schaut nicht tatenlos zu, wie einer scheitert. Er geht hin. So erzählt es das eben schon zitierte Lied in seinem dritten Vers:

„Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt.
Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

„Wer aufbricht, der kann hoffen“. Das macht Mut loszugehen in das noch unbekannte, neue Jahr. Auch Gott macht sich auf. „Er selbst kommt uns entgegen“, damit unterwegs niemand verloren geht.

„Die Tore stehen offen.“ Heute stehen die Tore des Jahres 2015 weit offen. Es ist kostbare Zeit – und sie bietet viele Möglichkeiten, Gottes Segen zu erfahren und ein Segen zu sein. In diesem Sinne wünsche ich: Gesegnetes neues Jahr!

Musik: Claude Debussy, aus La boîte à joujoux, Valse de la poupée, Orchestre National de Lyon unter Jun Märkl