Kirche unter dem Kreuz
Das Kreuz ist von Alters her das christliche Erkennungszeichen. Es findet sich in Kirchen und auf Gräbern, in Wohnungen, in Gerichtssälen und Klassenzimmern, auch an Straßen, auf Bergen und am Wegesrand. Menschen bekreuzigen sich, weil sie sich zu Jesus Christus bekennen. Sie zeichnen sich mit dem Kreuz und vertrauen sich seiner Macht an, wie ein magisches Zaubermittel, das das Böse bannen kann. So wird es auch als Schmuck getragen an Halskettchen in Silber, Gold oder Holz. Das Kreuz steht für Glaube, Vertrauen und Hoffnung. Aber es wird auch missbraucht: Es gibt Eiserne Kreuze, Ritterkreuze, Mutterkreuze, Ordenskreuze.
Bei den Pegida-Märschen in Dresden wird ein großes Kreuz mitgeführt, das Schwarz-Rot-Gold gefärbt ist. Pervers und geschmacklos! Und das Kreuz wird zum tödlichen Erkennungszeichen, wo Christen und Christinnen verfolgt und getötet werden, in Syrien, im Irak, in Nigeria, in Saudi Arabien. Es werden nicht nur Kirchen und Heiligtümer zerschlagen, sondern vor allem auch die Kreuze.
In diesen Tagen jährt sich zum einhundertsten Mal der Genozid an den Armeniern durch die osmanischen Machthaber. Ein Völkermord an einem christlichen Volk, der bis heute in der Türkei geleugnet wird. Armenische Steinkreuze waren vor hundert Jahren sichere Erkennungszeichen, wo Armenier lebten. Denn diese Kreuze sind unverwechselbar, wurden sie doch im Laufe der armenischen Geschichte in wunderschönen besonderen Formen gestaltet.
Dem Genozid fielen 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Die Kreuze haben die Mörder damals nicht zerschlagen. Heute in Syrien, im Irak und anderswo ist das anders. Da werden auch jahrhundertealte Kreuze zerstört.
Musik
Kreuze als christliches Erkennungszeichen sind Zeichen des Glaubens. Als Erinnerung an Jesu Kreuzigung sind sie Zeichen der Gewalt und des Todes, des Bösen und der Zerstörung. Zugleich aber auch Zeichen der Hoffnung. Davon spricht das Johannesevangelium im Bericht von der Kreuzigung Jesu, Kapitel 19.
"Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte."
Jesus trägt sein Kreuz selbst. Anders als es die Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas berichten, wird hier kein Simon von Kyrene aufgefordert, es für ihn zu tragen. Nach dem Johannesevangelium tut Jesus, was üblich war, dass nämlich die Verurteilten ihr Kreuz selber trugen. Johannes sagt damit: Jesus ist Herr des Geschehens. Er ist nicht ohnmächtiges Opfer, aber das Opfer in der Mitte zwischen den beiden anderen Gekreuzigten, zwei anderen Männern.
"Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben."
Jesus, der König der Juden, die Kreuzesaufschrift geschrieben in Hebräisch, der Sprache der einheimischen und einfachen Leute, in Griechisch, der Sprache der Wissenschaft und in Lateinisch, der Sprache des Handels, der Wirtschaft, der Politik.
Es scheint ein Streit zwischen Personen zu sein, ist aber ein Streit politischer Positionen. Pilatus verkörpert das römische Imperium, das kein weiteres Machtstreben duldet. Die jüdischen Oberen vertreten die Interessen ihres Volkes und dulden keinen König. Und wie immer sich die Zuschauenden damals positionieren oder wir, die heutigen Hörer und Hörerinnen, alle werden beteiligt und sind schuldig, auch wenn sie mit guter Absicht die eigenen Interessen vertreten. Das Kreuz Jesu durchkreuzt die politischen Positionen. Die dreisprachige Inschrift hat eine globale Botschaft: Das Kreuz steht für alle Völker, für jeden Menschen: Jesus, König der Juden in der Landessprache, der Amtssprache, der Weltsprache.
"Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: ‚Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen‘. Das taten die Soldaten."
Banales Soldatenleben unter dem Kreuz. Noch ist Jesus am Leben, aber die Soldaten nehmen sich, was ihnen nach Recht und Gesetz zusteht. Sie haben ihre Pflicht getan. Jetzt können sie ihren ohnehin nicht üppigen Sold aufbessern. Sie teilen, was sich teilen lässt. Wo das nicht geht, soll ein kleines Würfelspiel entscheiden. Ein Spaß für sie, vielleicht, aber nicht zynisch oder besonders roh.
Sie nehmen dem Sterbenden das Letzte, was er noch besessen hat. Das ist ihr Recht, aber – so sagt Johannes, der Evangelist – sie tun es als Werkzeuge Gottes, ähnlich wie Pilatus. Längst ist in der Schrift vorausgesagt, was da geschieht.
Und schließlich geht das Leben weiter, während Jesus am Kreuz stirbt. Wie heute auch, das Leben geht weiter, ganz alltäglich bei uns, während anderswo Menschen verhungern oder sterben in Kriegen oder bei Katastrophen, bei Unwettern, wenn die Erde bebt.
So ist die Welt, so banal, so schrecklich, manchmal so sinnlos. Menschen denken an sich und ihren eigenen Vorteil. Wie vor hundert Jahren, als die Armenier ermordet wurden und mit ihnen sechstausend Christen und Christinnen syrischer, chaldäischer, aramäischer und griechischer Abstammung einschließlich Katholiken und Protestanten im damaligen osmanischen Reich. Das christliche Europa sah weg, hörte weg, war mit dem eigenen Krieg beschäftigt.
Musik
Das erste organisierte Massaker von Osmanen an Armeniern und syrischen Christen und Christinnen war bereits 1895 und 1896, von der Welt fast unbemerkt. Einer der wenigen, die damals reagierten, war der evangelische Pfarrer und Orientalist Johannes Lepsius. Er gründete das „Armenische Hilfswerk“ mit Hilfsstationen in Ländern, in die Armenier damals geflohen waren: in der Türkei, in Persien, in Bulgarien. Mit großen Werbekampagnen machte er auf das Schicksal der Armenier aufmerksam. Den Genozid durch die Türken von 1915 prangerte er dann an in unzähligen Vorträgen und Presseartikeln. Vergeblich versuchte er, die Regierenden aufzurütteln, um dem Morden ein Ende zu machen. Es gelang ihm sogar, den türkischen Oberbefehlshaber Enver Pascha zu treffen. Auch ihn wollte er überzeugen, das Morden zu beenden. Vergeblich. Seine Schrift: „Armenien und Europa, Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland“, fand weite Verbreitung, jedoch blieben politische Reaktionen oder gar Hilfe aus. Schließlich verfasste er eine Dokumentation unter dem Titel: „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“. 22.000 Exemplare dieser Dokumentation waren schon in ganz Deutschland verschickt, davon 12.000 an evangelische Pfarrer und Superintendenten, ehe die Zensur sie am 7. August 1916 verbot.
In seiner evangelischen Kirche in Berlin wurde Lepsius‘ Einsatz für die Armenier stark kritisiert. Er wurde als Vaterlandsverräter angefeindet, so dass er sein Pfarramt aufgab und ins Exil nach Holland ging. Von dort organisierte er Hilfe für überlebende Armenier, vor allem in Urfa in der Nordost-Türkei, wo er unter anderem eine Teppichmanufaktur gründete. Flüchtlingsheime in Syrien und im Libanon kamen hinzu.
Johannes Lepsius sah sich in der Nachfolge des Gekreuzigten Jesus. Von ihm nahm er die Kraft zur Solidarität mit den Leidenden. Die Bergpredigt war sein Leitfaden. Er steht für die neue Gemeinschaft unter dem Kreuz, von der wir nach der Musik hören werden.
Musik
"Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich."
Die dritte Szene unter dem Kreuz zeigt, wie das Leben auch weitergehen kann: Als neue Gemeinschaft, als Kirche unter dem Kreuz. Vier Frauen und die Jünger werden eine neue Gemeinschaft von Müttern und Söhnen, von Brüdern und Schwestern. Der Anfang der Kirche.
Jesus schenkt Gemeinschaft über den Tod hinaus. Je näher Menschen zum Kreuz kommen, desto näher kommen sie zusammen. Sie nehmen einander an, sorgen füreinander und sind die Gemeinde des Gekreuzigten – weltweit, grenzenlos.
Schließlich die letzte Szene unter dem Kreuz Jesu, auch sie, so Johannes wörtlich, „damit die Schrift erfüllt würde“.
"Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und neigte das Haupt und verschied."
„Es ist vollbracht“. Die Schrift ist erfüllt. Mit diesem letzten Wort Jesu gibt Johannes dem Tod Jesu eine besondere Würde. Kein Schrei der Verzweiflung oder der Anklage. Kein Warum? Sondern Einverständnis: Es ist vollbracht.
Johannes schlägt den Bogen vom Leben Jesu und seinen Worten zu seinem Leiden und Sterben. Am Kreuz hängt der, der von sich gesagt hat. „Ich bin das lebendige Wasser“. Ihn dürstet, und er bekommt den Essigschwamm. Gleichzeitig stillt er den Durst nach lebendigem Wasser. Er kehrt heim zu seinem Vater, der Quelle des Lebens. Sein Werk, sein Leben ist nach der Schrift vollendet. Es ist vollbracht.
Gewiss, Jesus hätte ausweichen können, als ihm die Verhaftung drohte. Aber er ist nicht ausgewichen, ist nicht geflohen. So ist er im Leiden und im Tod gehalten von Gottes Liebe. Sein Tod ist Bestätigung, ist Vollendung dessen, was er gelebt hat. Die Liebe Gottes ist stark wie der Tod, ja sogar stärker. Dafür steht das Kreuz. Es ist vollbracht. Für Johannes ist damit die Frage nach dem Sinn des Leidens beantwortet. Bernhard von Clairvaux hat dazu gesagt:
"Das Kreuz ist eine Last von der Art, wie es die Flügel für die Vögel sind: Sie tragen aufwärts."
Musik
Das Kreuz lässt sich nicht schön reden, weder das Kreuz Jesu noch die vielen Kreuze, die Menschen tragen müssen. Leiden und Tod lassen sich nicht so leicht verstehen oder annehmen. Manche Versuche, der Gewalt oder dem Leiden Sinn zu geben, sind hohle Phrasen oder Beschwichtigungen, die niemandem wirklich helfen können. Welchen Sinn soll es haben, wenn ein Kind an Krebs stirbt oder ein Mensch durch einen Unfall getötet wird? Was hat der Tod von Soldaten für einen Sinn – egal ob in den Weltkriegen oder heute im Irak, in Somalia, im Kongo, in Israel und Palästina?
Welchen Sinn hatte der Tod der Millionen Armenier oder das Leiden der Flüchtlinge aus Syrien heute? So lange noch ein Kind auf dieser Welt verhungert oder Menschen um sinnlos Getötete klagen, ist das Reich Gottes noch nicht vollendet.
Johannes Lepsius, der von Armeniern bis heute als „der von Gott gesandte Schutzengel des armenischen Volkes“ verehrt wird, berief sich bei seinem Einsatz gegen den Genozid auf die Bergpredigt Jesu. Er stellte fest, dass Jesus dort ein Verhalten fordert, das – wie er es nannte – „der allgemeinen Sittlichkeit“ entgegengesetzt sein könnte. Dies sei: leiden, dulden, verzichten, aufgeben, tragen, opfern, sterben. Das Kreuz Jesu ist die letzte Konsequenz der Liebe und ermutigt zur Nachfolge dieser Liebe.
Wenige Jahrzehnte später war es wieder ein evangelischer Theologe, der sich in dieser Art auf die Bergpredigt Jesu bezog und zugleich die Kraft des Kreuzes betonte: Dietrich Bonhoeffer. Er wurde als Mitglied des Widerstands gegen Hitler und die Nazis am 9. April 1945 hingerichtet. Sein Gedicht „Christen und Heiden“ von 1944 gilt auch Karfreitag 2015:
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.