hr2 MORGENFEIER
hr2
Jung, Dr. Dr. h.c. Volker

Eine Sendung von

Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt

Ostern – Am Ende steht das Leben

Ostern – Am Ende steht das Leben

Am Ostermorgen liegt Leben in der Luft. Doch das wissen die Frauen noch nicht, die früh morgens zum Grab von Jesus gehen. Sie wollen seinen Leichnam pflegen, so wie es üblich ist. Doch sie finden sein Grab leer vor. Der Tote, vor drei Tagen gekreuzigt, gestorben und begraben, ist nicht mehr da. Für die Frauen ist das zunächst kein Moment der Freude, denn sie wissen noch nicht, was das bedeutet. Sie sind erst einmal erschrocken. Denn für sie bricht eine letzte Gewissheit zusammen. Und die lautet: Niemand entgeht dem Tod. Das ist zwar eine traurige Gewissheit, aber es ist angesichts der vielen Unwägbarkeiten des Lebens zumindest eine Gewissheit.

Doch nun ist das Grab leer und die Frauen erfahren: Jesus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Offenbar ist auch die letzte Gewissheit des Todes durchbrochen. Für Jesus steht am Ende nicht der Tod, sondern das Leben.

Was die Frauen dazu gesagt haben, ist nicht überliefert. Vielleicht hat es ihnen einfach nur die Sprache verschlagen. Aber vielleicht, zumindest wenn sie bibelfest waren, ist ihnen in dieser Situation ein Psalm eingefallen, den sie im Gottesdienst sicher schon gehört haben. Er lautet so:

Sprecherin:
„Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Bedürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setzte unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse.“

Das sind starke Worte, gesprochen hat sie eine Frau mit dem Namen Hanna. Sie hatte diese Worte gebetet aus lauter Freude. Freude über unverhofftes Leben, das ihr geschenkt wurde. Allerdings auf andere Weise, als es die Frauen am Ostermorgen erfahren haben. Hanna hatte lange Jahre lang versucht, ein Kind zu bekommen. Aber es war ihr nicht vergönnt gewesen. Viele Menschen können ihr nachfühlen, wie das ist, wenn einem ein solcher entscheidender Herzenswunsch immer und immer wieder versagt bleibt. Doch dann, nach vielen Jahren, vielen Versuchen und vielen Gebeten, hat sie doch eines bekommen – einen Jungen namens Samuel. Nach seiner Geburt betet Hanna, die Mutter, erfüllt von Freude und Stolz ihren Psalm. Darin bekennt sie: „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt hinab zu den Toten und wieder herauf.“

Es ist erstaunlich, wie Hanna in diesem Psalm die ersehnte Geburt ihres Kindes versteht. Sie belässt es nicht bei romantischen Gefühlen für ihr Baby. Sie bleibt nicht beim Zauber dieses neuen Lebens. Sondern sie spannt den ganz großen Bogen von der Geburt bis zum Tod. Und vom Tod hin zum Leben. Diesen Bogen bringt sie mit Gott in Verbindung. Denn für Hanna hat nicht sie ein Kind in die Welt gesetzt, wie es heute oft heißt. Für Hanna ist dieses Kind ein Werk Gottes, den sie als Herrn über Leben und Tod bekennt. Gott setzt die Grenzen des Lebens, den Anfang und das Ende. Und er kann diese Grenzen auch wieder öffnen. Nach seinem Willen liegt Leben in der Luft. Oder auch der Tod. Wenn Gott will, ist der Tod besiegt. Und kein anderer kann diese Macht durchbrechen. Ist das wirklich wahr?

MUSIK

Gott als Herr über Leben und Tod – davon erzählt die Liturgie auf den Friedhöfen, wo es heißt: „Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ Das klingt so selbstverständlich, als könne es gar nicht anders sein. Zumindest wenn man einen Menschen verabschiedet, der alt und lebenssatt war. Die Hinterbliebenen dürfen hoffen, dass Gott dem Verstorbenen ein anderes Leben öffnet.

Doch es gibt auch andere Tode – schreckliche, tragische. Etwa wenn ein Kind stirbt oder eine junge Mutter. Ist Gott auch Herr darüber? Dem Psalm zufolge ja, wenn er bekennt: „Der Herr tötet und macht lebendig, führt zu den Toten und wieder herauf.“ Aber dieser Gedanke zerplatzt einem spätestens dann im Kopf, wenn man ihn auf die Gaskammern in Auschwitz oder auf Terroranschläge in unserer Zeit bezieht. Im Angesicht dieser Toten kann wohl niemand diesen Psalm einfach beten und schon gar nicht glauben. Hier ist ein unlösbares Geheimnis Gottes berührt, der doch so oft gesagt und gezeigt hat, wie sehr er Menschen liebt.

Dieses Geheimnis kann auch Hanna, die glückliche Mutter, nicht lüften. Sie betet ihren Psalm auch nicht als Aussage, die überall und immer gelten müsste. Sie betet ihn in einem überglücklichen Moment ihres Lebens: nach der Geburt ihres ersehnten Kindes. Dafür ist sie Gott zutiefst dankbar.

Hannas Gefühle teilen glückliche Mütter und Väter bis heute – und viele Ärzte mit ihnen. Bei der Geburt eines kleinen Kindes liegt das Wunder eines neuen Lebens in der Luft, viele erleben es als Geschenk Gottes. Doch das scheint nur ein Teil der Wahrheit zu sein, der religiöse Teil. Denn Kinder werden nun einmal aktiv gezeugt. Und nicht viele kommen heute nur deshalb auf die Welt, weil die Medizin in der Lage ist, kräftig nachzuhelfen. Und das gilt auch für den Zeitpunkt des Todes. Es ist also auch eine gute Portion Menschenhand im Spiel, wenn es um Leben und Tod geht. Noch deutlicher wird das im alltäglichen Leben. Wem verdanke ich meinen beruflichen Erfolg? Meine Gesundheit? Meine gute Ehe und meine wohl geratenen Kinder? Nichts davon ist doch vom Himmel gefallen, es ist vielmehr Frucht harter Arbeit, vielleicht noch etwas Glück dabei. Oder?

MUSIK

Wem verdanke ich es, wenn ich es im Leben weit bringe? Und was ist „weit“? Eine Frau hat das für sich scheinbar geklärt.

Sprecherin:
Schon früh hatte Dorothea eine klare Vision. Sie wollte Ärztin werden. Warum, das konnte sie gar nicht so genau sagen. Klar, Menschen helfen, Krankheiten besiegen – das war ein Motiv. Aber auch anderes lockte sie: die Aussicht auf einen guten Verdienst, das Selbstbild einer starken Frau im weißen Kittel, der Doktor-Titel ..... Dorothea kannte den Weg zu ihrem Traum. Hart arbeitete sie schon in der Schule auf dieses Ziel hin, lernte fleißig, kämpfte um gute Noten. Die bekam sie und später auch den ersehnten Studienplatz. Der Elan, der sie durch die Schulzeit getragen hatte, trug sie nun auch durch das Studium. Sie schaffte die Prüfungen, sie bestand das Examen. Nun ist sie das, was sie werden wollte: Ärztin. Ihr Traum ist erfüllt: Sie findet eine gute Stelle. Weiter geht es mit harter Arbeit im Krankenhaus. Das lässt ihr wenig Zeit fürs Privatleben. Aber das macht ihr nichts. Die Arbeit erfüllt sie. Dorothea hält sich fit. Wann immer es geht, trainiert sie in einem Fitnessstudio. Sie isst gesund und pflegt sich. Alles macht sie richtig. Darauf ist sie insgeheim stolz, sie führt ein gutes, ein starkes Leben.

Aber da gibt es ein paar Momente, wo sie an ihre Grenzen stößt. Das erste Mal war das, als sie hilflos miterleben musste, wie in ihrem Krankenhaus ein Kind starb. Sie und die anderen Ärzte hatten alles versucht. Doch vergeblich. Keine Therapie konnte es retten. Die ernsten und doch so neugierigen Augen des sterbenden Jungen verfolgen sie bis heute. Auch der Zorn, dass diesem Kleinen von seinem Leben fast alles vorenthalten wurde. Und die Frage: Wenn sie als Ärztin schon nicht helfen kann, wer dann? Solche Gedanken treten im turbulenten Alltag zurück. Doch insgeheim bohren sie weiter. Und sie machen Dorothea müde. Es kostet viel Kraft, jeden Tag volle Leistung zu bringen und zugleich wichtige ungelöste Fragen von sich fernzuhalten. Da hilft es, dass sich Dorothea mit vielen Patienten freuen kann, die geheilt nach Hause gehen. Doch nun melden sich die Fragen wieder zurück. In ihrer Station liegt eine noch junge Frau. Sie gehört zu demselben Jahrgang wie Dorothea selber. Die beiden kennen sich. Bis vor wenigen Monaten haben sie sich gelegentlich im Fitnessstudio getroffen – zwei vitale Frauen, lebenslustig, stark und selbstbewusst. Doch nun ist die eine schwerkrank. Und die andere kämpft um deren Leben. Alles Menschenmögliche hat Dorothea getan. Ob das genug war? Sie weiß es nicht. Nur ein Wunder kann die Frau noch retten. Es klingt wie eine Floskel. Doch in diesem Moment spürt sie, wie wahr dieser Satz ist. . Und wenn es kein Wunder gibt? War es das dann für die Frau? Oder kommt da noch was? Sie hofft es, merkt Dorothea überrascht. Aber sie weiß nicht, was das genau sein soll.

MUSIK

Dorothea, die junge Ärztin, spürt den tiefen Zwiespalt, in dem sie steckt – wie viele andere auch. Ja, sie ist eine starke Frau, sie weiß, auf was es im Leben ankommt. Sie hat ein Ziel, sie hat Tatkraft, sie bringt Leistung, sie übernimmt Verantwortung, sie lebt gesund. Sie macht alles richtig. Und sie hat Erfolg damit. Leistung zahlt sich eben aus. Und damit kann man gut leben. Dafür braucht man keine Hilfe und schon gar keinen Gott. Das macht man aus eigener Kraft, meinen viele.

Es gibt zahlreiche Wahlsprüche für diese Einstellung: Leistung lohnt sich. Dem Tüchtigen hilft das Glück. Nimm dein Leben in die eigene Hand. Jeder ist seines Glückes Schmied. Diese Wahlsprüche markieren heute die weithin akzeptierte Haltung. Und etwas an ihnen ist richtig, nämlich die eigenen Kräfte und Fähigkeiten einzusetzen, um das eigene Leben gut und sinnvoll zu gestalten.

Aber viele folgern daraus auch umgekehrt: Wer die Leistung nicht bringt, ist selbst schuld daran, wenn er am Rande bleibt. Und wer krank ist, muss etwas falsch gemacht haben.

Für die Gesunden und Leistungsfähigen ist das eine verführerisch angenehme Haltung. Damit können sie sich ihre eigenen Erfolge selbst zuschreiben. Umgekehrt wären auch die Erfolglosen und Kranken dann an ihrer Misere selbst schuld. Diese Sicht ist nicht nur grausam gegenüber den Erfolglosen. Sie ist auch gefährlich für die Erfolgreichen. Denn sie verführt viele dazu, sich selbst zu überschätzen und zu überfordern. Wer so denkt, presst sich womöglich alles ab, um möglichst viel oder gar alles zu erreichen. Aber die Skala der selbst gesteckten Ziele ist nach oben hin offen. Genug ist da nie genug. Und manche kämpfen zu verbissen für ihre Ideen, manche laden sich dabei womöglich die ganze Welt mit allen Sorgen auf ihre Schultern – bis sie darunter zusammen brechen.

Auch die Ärztin Dorothea erlebt, wie viele andere auch, dass sie an ihre Grenzen stößt. Warum muss der kleine Junge sterben? Warum wird die eine Frau krank und die andere nicht, obwohl beide gesund leben? Längst nicht immer passt das, was man selber tut, zusammen mit dem, was man erlebt. Längst nicht alle, die im Beruf erfolgreich sind, sind auch klug. Längst nicht alle Armen sind unfähig. Und längst nicht alle, die fleißig ins Fitnessstudio gehen und sich gesund ernähren, werden auf schöne Weise alt. Längst nicht jeder Kranke trägt eine Mitschuld oder gar die Schuld an seiner Krankheit.

Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, gilt: Längst nicht jeder Erfolgreiche ist auch glücklich. Und umgekehrt. Viele Menschen, die ein bescheidenes oder gar ärmliches Leben führen, sind glücklich damit. Mancher kann sich nach einem langen und reichen Leben nicht davon trennen und stirbt einen mühsamen Tod. Ein anderer kann sich scheinbar leicht in die Hand Gottes fallen lassen. Es zeigt sich: Die einfache Sicht auf Erfolg und Misserfolg funktioniert nicht. Sie führt nicht zum Sinn des Lebens. Und schon gar nicht über die Grenzen des Lebens hinaus.

Die biblische Frau Hanna denkt darüber anders. In ihrem Psalm betet sie zu Gott:

Sprecherin:
„Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Bedürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse.“

Für Hanna regieren weder Geld noch Erfolg die Welt, sondern Gott tut das. Für sie ist das aber kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, was das Leben so bringt. Nein, sie kämpft mit aller Kraft um ihren Wunsch. Alles, was in ihrer Macht stand, hat sie getan, um ein Kind zu bekommen. Dafür hat sie sich sogar mit Gott selbst angelegt, in langen Gebeten hat sie mit Gott gerungen. Dabei war ihr aber immer klar, dass ihr Wunsch nur in Erfüllung gehen würde, wenn er in Gottes Handeln hinein passt. Niemand sonst konnte ihr das verwehren oder eröffnen. Niemand sonst setzt und öffnet Grenzen zum Leben.

Das ist eine höchst unmoderne Haltung, denn sie bestreitet dem Menschen seine letzte Gestaltungsfreiheit. Das wird viele ärgern, die sich als freie Herren ihres Lebens sehen möchten, als Schmiede ihres persönlichen Glücks. Aber es kann sie auch davon befreien, sich täglich neu inszenieren und erfinden zu müssen. Niemand kann sich alleine sein Leben garantieren. Und niemand muss das. Das nimmt Druck. Und das haben viele bitter nötig. Wie sagt Hanna? „Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht.“ Das sind gute Worte für Ausgebrannte, Erschöpfte, Überlastete, Überforderte, Unzufriedene und Verbissene. Das sind gute Worte für alle, die sich verzweifelt an das Leben klammern, als wäre es alles, was es gibt.

MUSIK

Sprecherin:
„Gott hebt auf den Bedürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse.“

Was nutzt dieses Bekenntnis Gottes zu den Armen und Bedürftigen der engagierten Ärztin Dorothea? Sie will helfen und heilen, stößt dabei aber an ihre Grenzen. Und sie wird ihre Fragen nicht los. Was würde die fröhliche und gläubige Hanna zu Dorothea sagen, wenn sie sie besuchen könnte? Wenn Hanna die Ärztin Dorothea treffen würde bei ihrem Kampf um das Leben der kranken Frau?

Sicher würde Hanna schnell merken, wie erschöpft Dorothea ist. Vermutlich würde Hanna sie in den Arm nehmen und sagen:

Sprecherin:
„Du hast getan, was du konntest. Mehr geht nicht. Nun muss sich zeigen, ob dein Handeln in Gottes Pläne passt. Lass uns beten, dass die Frau überlebt. Aber vielleicht ruft Gott sie auch bald in ein anderes Leben. Wie das Kind, das schon gestorben ist. Aber sei gewiss: Leben ist mehr als wir kennen. Nach Gottes Willen steht am Ende des Lebens das Leben.“

Am Ende des Lebens steht das Leben. Das hat Jesus in seiner Auferstehung gezeigt. Und die Frauen haben es entdeckt: Heute, am Ostermorgen, liegt Leben in der Luft.

MUSIK