hr2 MORGENFEIER
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Alles ist Gnade

Alles ist Gnade

Ein klein wenig frischer Wind am Morgen des Neuen Jahres soll schon sein…

Ein wenig frischer Wind tut ganz gut am Beginn eines neuen Jahres, liebe Hörer. Das Alte ist vergangen, jetzt soll etwas Neuen kommen. Vielleicht auch neue Gedanken über das alte und vertraute Leben. Alles einmal von einer etwas anderen Seite sehen, ganz in Ruhe. Das Leben betrachten aus einem anderen Blickwinkel.

Das möchte ich heute Morgen tun: alles, was mich umgibt, einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten, ganz in Ruhe. Dabei will ich nur an ein einziges Wort denken. Ein Wort, das fast zu groß ist für die paar Buchstaben, die es bilden. Seine fünf Buchstaben scheinen gar nicht auszureichen für das Wort GNADE, noch nicht einmal dann, wenn man das Wort in Großbuchstaben schreibt. Gnade. So ein Riesenwort. Der Apostel Paulus behauptet sogar: Alles ist Gnade. Lass dir an meiner Gnade genügen, will Paulus von Gott selbst gehört haben, denn meine Kraft ins in den Schwachen mächtig (Neues Testament, 2. Korintherbrief Kapitel 12, Vers 9, Jahreslosung 2012).

Ob das stimmt? Eine gute Frage, über die ich jetzt nachdenken möchte. Nicht allgemein, sondern ganz persönlich. Zwei Menschen stelle ich Ihnen vor, die mit dem Riesenwort Gnade gelebt haben wie mit einem fremden Freund. Sie haben einfach immer wieder nachgedacht, ob ihr Leben Gnade ist oder nicht. Es ist nicht wichtig, wie stark sie geglaubt haben oder wie sehr wir glauben; wichtig ist nur, darüber nachzudenken. Nachdenken ist schön. Nur ein bedachtes Leben ist ein gelebtes Leben. Nach der Musik stelle ich Ihnen den ersten der beiden Menschen vor.

MUSIK

Der Apostel Paulus war ein richtiger Gnadenmensch, könnte man sagen. Er war römischer Bürger, dazu Jude und in allem hoch gebildet; er konnte lateinisch und griechisch lesen und schreiben. Eine Seltenheit damals, etwa im Jahre 50 nach Jesu Geburt. Und Paulus ist eifrig: Mit Lust und Freude verfolgt der römische Jude Paulus, der da noch Saulus hieß, die neue Religion der Christen. Mit klammheimlicher Freude beobachtet er die Steinigung des Christen Stephanus (Neues Testament, Apostelgeschichte Kapitel 8, Vers 1)

Wirklich wutschnaubend verfolgt er alles, was christlich ist, bis – ja bis er ein eigenartiges Erlebnis hat. Jesus selbst, so erzählt uns Paulus, ruft ihm eines Tages zu: Paulus, warum verfolgst du mich? (Apostelgeschichte Kapitel 9.)

Ja, warum eigentlich? In den kommenden Tagen stellt Paulus sein ganzes Leben auf den Kopf, wie er selber sagt. Er ist immer noch eifrig, aber für eine ganz andere Sache. Er erzählt von Jesus, wo er geht und steht. Er schreibt Briefe an christliche Gemeinden in Korinth, Philippi und in Rom. Er hat viele Themen, aber nur eine Überschrift: Mein Leben und alles, was mich bewegt, schreibt er, ist Gnade. Dabei geht es ihm überhaupt nicht gut. Er ist nicht ansehnlich, er ist oft krank, er wird ins Gefängnis gesteckt und ausgelacht, er streitet sich mit anderen Aposteln wie zum Beispiel Petrus. Trotz allem sagt er auch denen, die es nicht hören wollen: Alles ist Gnade. Nur durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin (1. Korintherbrief Kapitel 15, Vers 10). Lass dir an meiner Gnade genügen, will Paulus von Gott selbst gehört haben, denn meine Kraft ins in den Schwachen mächtig.

Ob ich das glauben soll?

Nein, das soll ich noch nicht glauben. Ich soll das nur hören und darüber staunen und nachdenken. Wie kann ein Mensch, der zwar reden und reisen kann, sonst aber das Gefühl hat, Gott wolle ihn andauernd prüfen – wie kann der von Gnade sprechen und schreiben?

Gleich will ich noch von einem anderen Menschen erzählen, der zu unserer Zeit lebte, arbeitete und oft betrübt war, aber trotz allem immer wieder nur von einem sprach: von der Gnade.

MUSIK

Paulus ist heute weit entfernt von uns, auch wenn seine Worte oft sehr schön sind. Es gibt aber einen Mann, der vor fünfzig Jahren starb (am 17. oder 18. September 1961), weltberühmt war und ganz tief in seinem Herzen immer gegrübelt und nach Gott gesucht hat. Ich meine den ersten Generalsekretär der Vereinten Nationen, den Schweden Dag Hammarskjöld. Er stirbt unter seltsamen Umständen mit 56 Jahren. Sein Flugzeug stürzt ab, und bis heute ist nicht klar, ob es ein Unfall war oder ein Anschlag gewesen sein könnte. Hammarskjöld war da in Sachen Frieden unterwegs, wie immer. Einigen Nationen ging sein unbedingter Friedenswille für die Welt etwas auf die Nerven, könnte man sagen. Er war weltberühmt, aber wegen seines Einsatzes für Frieden längst nicht in aller Welt beliebt. Nach seinem plötzlichen Tod findet man ein Tagebuch auch mit religiösen Notizen. Eine davon liest man auf seinem Grabstein in Uppsala in Schweden. Der Satz ist ein außergewöhnliches Wortbild, eine Umschreibung für das Wort Gnade. Auf seinem Grabstein steht:

Nicht ich / sondern Gott in mir.

Hammarskjöld studiert nach einer glänzend hinter sich gebrachten Schulzeit Rechtswissenschaft, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften, später ist er Schwedens stellvertretender Außenminister. 1953 wird er Generalsekretär der Vereinten Nationen.

In seiner langen Karriere ist er ein oft zweifelnder, immer über Gott nachdenkender Mensch, der sich während seiner Arbeit Notizen macht in sein Buch „Zeichen am Weg“. Darin schreibt er zum Beispiel: „Wir haben die Verantwortung für unser Versagen, aber nicht die Ehre für unsere Leistung." Aber auch kleine Gebete finden sich im Buch - und viele Nachdenklichkeiten über das Leben, über Gott und die Welt.

Die Welt ahnt bald, wen sie mit diesem Menschen verloren hat: Einen politisch aufrechten und menschlich demütigen Politiker und Christen. Alle Nachfolger Hammarskjölds zollen ihm hohen Respekt. Sein Buch „Zeichen am Weg“ erlebt in aller Welt viele Auflagen. Wer heute in der politischen Diskussion eine gewisse Flachheit feststellt, sollte sich unbedingt in diese Gedanken vertiefen. Sie zeigen, was ein Mensch zu denken und zu hoffen vermag, wenn er viele Fragen hat und das Leben dennoch bedingungslos mit Gott leben will. Hammarskjöld ist ein protestantischer Heiliger, aufrecht und angefochten und demütig in einer oft verworrenen Welt. Für sich weiß er genau: Alles ist Gnade. Auf seinem Grabstein steht das in seinen Worten: Nicht ich, sondern Gott in mir.

Muss ich das jetzt glauben? Nein, immer noch nicht. Es geht nicht zuerst um Glauben, es geht immer erst einmal ums Hören. Es geht nur um einen Blickwinkel neuer Nachdenklichkeit: Alles mal mit anderen Augen zu sehen; mit den Augen derer, die gesagt und geglaubt haben: Alles ist Gnade. Nach der Musik will ich mir dazu noch ein paar Gedanken machen.

MUSIK

Vielleicht ist es ja so: Gnade ist das Wissen, ihrer zu bedürfen. Vielleicht ist es ja so einfach zu sagen; und so schwer, das zu begreifen.

Wie gerne klopfen sich Menschen doch nur auf die eigene Schulter, wenn ihnen das Leben gelingt. Wie gerne berauschen sich Menschen an ihrer Kraft und an ihrer Leistung. Sie erinnern sich vielleicht an die Sparkassenwerbung, in der ein Mensch einem anderen stolz viele Bilder zeigt und immer wieder ausruft: Mein Haus! Mein Auto! Mein Reitpferd! Oder ich sehe einen alten Herrn, der im Fernsehen gefragt wird, wie er das denn gemacht habe mit der Gesundheit und dem schönen Alter. Und was antwortet er? Er lächelt und sagt: „Jeden Tag ein Glas Wein!“; oder: „Immer ein bisschen Sport!“ Als sei ein gesegnetes Alter sein Verdienst oder überhaupt ein Verdienst. Das erinnert mich an eine Karikatur. Ein Ehepaar sitzt im Wohnzimmer. Sie löst ein Kreuzworträtsel, er hilft dabei. Als sie einmal nicht weiterkommt, fragt sie ihren Mann: „Was soll denn das sein: Weltmacht mit drei Buchstaben?“ Da antwortet er im Brustton der Überzeugung: „Ich!“ Das mit den drei Buchstaben stimmt, sonst stimmt nichts.

Und die gleichen Menschen, die so stolz sind auf ihren Besitz und immerzu auf ihre Leistung verweisen und oft gar nicht mehr damit aufhören können, sich auf die Schulter zu klopfen - die gleichen Menschen können immer sofort gar nichts dafür, wenn sie mal einen Fehler gemacht haben oder Schuld auf sich geladen haben. Dann sind es sofort die anderen, oder die Umstände, oder Gottes Schweigen. Dass dies nicht zusammen passt, ist vielen gar nicht klar oder gehört nicht in ihr Weltbild.

Und dann ist da der schmächtige Paulus und der hoch berühmte Dag Hammarskjöld, die vieles erreicht haben im Leben und bei vielen Menschen nach Frieden gesucht und ihn manchmal auch gestiftet haben, - und die schreiben in einem Brief oder auf den Grabstein: Alles ist Gnade; oder: Nicht ich, sondern Gott in mir.

Und was glaube ich selbst?

MUSIK

Die Suche nach Gnade und das Hoffen auf Gnade beginnen immer mit Nachdenklichkeit. Nur ein bedachtes Leben ist ein gelebtes Leben. Und jedes gründliche Nachdenken über das eigene Leben beginnt dem Wort: Warum? Warum geht es mir gut? Warum habe ich erreicht, was ich erreicht habe? Warum wurde und werde ich von diesem oder jenem verschont? Warum ist mein Leben angenehm oder erträglich? Warum kann ich freundlich und sogar fröhlich sein? Ja, warum?

Paulus sagt es ganz groß, wenn er schreibt: Lass dir (in allem) an meiner Gnade genügen. Oder in Kurzform: Alles ist Gnade; Gott kann nur Gnade.

Ja, ein kurzer Satz ist gefährlich. Je oberflächlicher man ihn betrachtet, desto gefährlicher ist er. Auch der Satz auf dem Grabstein von Dag Hammarskjöld kann gefährlich sein, wenn man ihn nur flüchtig liest: Nicht ich / sondern Gott in mir. Da muss man in die Tiefe seines ganzen Lebens gehen, um besser zu begreifen: Für so wenig kann ich wirklich etwas; so vieles ist mir geschenkt: Dass unsre Sinnen, wir noch brauchen können und Händ‘ und Füße, Zung‘ und Lippen regen – das haben wir zu danken seinem Segen (Paul Gerhardt; Ev. Gesangbuch 447, Vers 3). Und wenn Menschen ihre Sinne, Hände und Füße nicht mehr regen können wie Paulus, der zeitlebens krank war oder im Gefängnis? Selbst denen noch will Paulus unbedingt seinen Glauben sagen: Alles ist Gnade.

Was ich persönlich davon halte, sage ich auch gleich noch.

MUSIK

Ist wirklich alles Gnade, was ein Mensch mit Gott erlebt? So leicht die Frage klingt, so schwer ist die Antwort darauf. Ich will ja auch heute Morgen niemanden von Ihnen zu einem Glauben überreden, sondern nur einen nachdenklichen Blickwinkel einnehmen in der Hoffnung, Sie schauen einfach mit mir. Wenn ich auf mein Leben schaue und auch auf das neue Jahr – kann ich dann von Gnade sprechen? Nur das möchte ich, wenn ich an Paulus und an Dag Hammarskjöld erinnere, die von Gnade gesprochen haben. Kann ich das auch? Kann ich, wie manche Menschen das ja tun, auch bei den Schmerzen noch von Gnade sprechen oder doch von einem Fingerzeig Gottes?

Ich kann da nicht für Sie antworten, aber diesen nachdenklichen Blickwinkel kann ich ja einnehmen. Anders gefragt: Wenn ich nicht von Gnade sprechen will für mein Leben, wie soll ich es dann nennen?

Man kann es ja schon Gnade nennen, wenn ich nur weiß, wie angewiesen ich bin in allem: Angewiesen auf Menschen und ihre Hilfe; angewiesen auf Vertrauen, dass die anderen es möglichst gut mit mir meinen; angewiesen auf Gott, der mich wertschätzen soll wie sein eigenes Kind. Viele mögen das erst einmal gar nicht, dieses Gefühl, in so vielem doch immer bedürftig zu sein und zu bleiben. Vielleicht mögen es viele nicht, weil sie nicht danke sagen möchten. Die sagen dann lieber, wenn sie einmal wirklich nichts dafür können: „Da hab‘ ich Glück gehabt!“ Und woher kommt denn dieses „Glück“?

Paulus und Hammarskjöld denken und sprechen nicht von Glück, sondern von Gott, von seinen Geschenken und von seiner Gnade. Drei Jahre vor seinem Tod schreibt Hammarskjöld in sein Notizbuch:

Das Leben hat Wert nur durch seinen Inhalt – für andere.
(Mein) Leben ohne Wert für andere - ist schlimmer als der Tod.

Wie unbeschreiblich groß (ist das), was mir geschenkt wurde.
Wie nichtig (dagegen ist das), was ich opfere.

Alles ist Gnade – diese drei Worte sind nichts, was man mal eben so glauben kann oder soll. Alles ist Gnade, da muss man hineinwachsen wie ein Kind in noch zu große Schuhe. Die drei Worte sind wie ein wenig frischer Wind, der uns neues Nachdenken bringt, einen anderen Blickwinkel für das, was ich erlebt habe und noch erleben werde. Vieles war Gnade, was ich erleben durfte, das glaube ich. Aber noch viel mehr lebe ich in der Hoffnung, dass auch das, was kommt, Gnade sein wird. Lass dir an meiner Gnade genügen, sagt Gott, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Jahr 2012.