Von hundert auf null
Für mich ist die Corona-Krise mit sehr widersprüchlichen Gefühlen verbunden:
Einerseits merke ich ein Gefühl von Kontrollverlust. Normalerweise habe ich einen prall gefüllten Terminkalender. Ich bin getaktet. Ich liebe Kontrolle. Ich plane mein Leben. Und jetzt weiß ich nicht, was in den nächsten fünf Minuten passiert, die Faktenlage ändert sich ständig. Da ist kein Terminkalender mehr, der mir Struktur gibt.
Andererseits bin ich aber auch ein Profiteur von Corona. Von jetzt auf gleich stellt sich so ein Freiheitsgefühl bei mir ein. Eben weil mein straffer Terminkalender sich aufgelöst hat. Und ich fühle mich fast ein bisschen schuldig: Ups, ich reagiere mit einem positiven Freiheitsgefühl auf die Pandemie. Darf ich das jetzt überhaupt so genießen? Aber so ist es nun mal.
Diese widersprüchlichen Gefühle haben in mir eine Frage ausgelöst: Was setze ich eigentlich für Prioritäten? Warum tue ich überhaupt das, was ich sonst so tue? Ich hätte jetzt Zeit, an Sachen weiter zu arbeiten, die liegen geblieben sind. Aber vieles davon kommt mir auf einmal so unwichtig vor.
Und ich habe mich gefragt, ob Gott vielleicht jetzt mehr Freiheit in meinem Leben hat. Ob mein Kontrollieren und Planen ihn eher behindert und er jetzt sagt: Zwischen deinen vorgeformten Zeilen komme jetzt ich und schreibe mit dir das wirkliche Leben. Ich ziehe dich in meine größere Perspektive, die ich für dich habe.
Mir kommt da als Vergleich ein Bild in den Kopf: Ich sitze an der Bushaltestelle und warte. Währenddessen male ich mir aus, was alles passiert, wenn der Bus endlich da ist. Aber Gott sitzt schon mit mir im Wartehäuschen und sagt zu mir: „Hey, das Leben beginnt nicht erst, wenn der Bus da ist. Ich sitze hier mit dir. Ich bin da. Ich bin bei dir. Dein Leben mit mir ist jetzt, ist hier, unterwegs und zwischen den Zeilen. Da habe ich eine Perspektive für dich.“
Das ist etwas, das ich in dieser Corona-Zeit lernen möchte: Mehr im Hier und Jetzt zu sein, Kontrolle abzugeben, und mich auf diese Überraschungen Gottes einzulassen.
Zwischen meinen vorgefertigten Zeilen schreibt er seine Geschichte mit mir. An der Bushaltestelle meines geplatzten Terminkalenders – genau hier findet Gott mich und setzt sich dazu.