Kleiner Riss mit großer Bedeutung
Hups, runtergefallen. Und kaputt! Die schöne Porzellantasse! Ich hätte es wissen sollen. Warum kann ich nicht aufpassen? Und ich habe noch zu mir selbst gesagt: sei vorsichtig. Für japanisches Porzellan-Handwerk ist das kein Problem: das wartet geradezu auf Scherben, auf eine Tasse in vielen Einzelteilen. Darüber habe ich neulich erst etwas gelesen. Kintsugi heißt diese japanische Handwerkskunst. Sie beschäftigt sich damit, Porzellan und Keramik, das in verschiedene Scherben zersprungen ist, wieder zu reparieren, zu kleben. Und es macht sie durch ihre besondere Kunst noch schöner als vorher Dazu gibt es einen speziellen japanischen Lack, mit dem die Teile wieder zusammengefügt werden. Die Bruchstellen bleiben sichtbar. Eine bewusste Entscheidung. Der Riss wird zu einem wichtigen Teil des Objekts, er ist Teil seiner Geschichte. Nicht Abfall, sondern Glücksfall. Das Besondere: Diese Nähte, quasi diese Narben des Porzellans, werden mit Gold oder Silberstaub überzogen. Das sieht dann aus, als ob sich zarte goldene Adern über die Oberfläche ziehen, oder als ob eine wunderschöne Wurzel darüber wächst und die Tasse zusammenhält. Oft sind die neuen Gegenstände nachher kostbarer als vorher und auch schöner. Die Zerbrechlichkeit des Gegenstandes wird noch hervorgehoben. Erst dank ihres Makels konnte Kintsugi der Tasse neue Schönheit verleihen. Kintsugi heißt wörtlich: "Gold flicken".
Ich stelle mir vor, wie Gott auch so ein Kintsugi-Meister meines Lebens ist: wie er das Schöne im Fehlerhaften, im Vergänglichen, im Zerbrochenen sieht. Wie er meine Verletzungen und Bruchstücke vergoldet. Sie nicht nur notdürftig repariert, sondern daraus eine neue Schönheit entstehen lässt, die durch die Scherben überhaupt erst möglich wurde. Schönheit muss nicht Perfektion bedeuten. Glück muss nicht bedeuten, dass es niemals Schmerz gibt.
2020 fand ich ein Jahr mit vielen Brüchen. Ich erfreue mich an dem Gedanken, wie Gott als japanischer Kintsugi-Meister mithilfe seines Goldes und seiner zarten künstlerischen Fingerfertigkeit daraus etwas Wunderschönes entstehen lässt. Etwas Neues, das erst durch das Zerbrechliche möglich wurde.