Auffälliges Krankheitsbild in Jerusalem
In der Psychologie gibt es das so genannte Jerusalem-Syndrom. Eine spezielle psychische Auffälligkeit, von der jährlich etwa 100 Besucher der Stadt Jerusalem betroffen sind. Die Erkrankung äußert sich darin, dass der oder die Betroffene sich mit einer heiligen Person aus der Bibel identifiziert und sich als diese ausgibt. Dabei sind bekannte biblische Figuren besonders beliebt. Die Personen tun dann so, als wären sie König David, Maria oder Jesus. Dabei sehen sie dann oft so aus wie in Kinderbibel-Illustrationen: mit langen Haaren und wallenden Gewändern. Und sie fallen auf durch öffentliche Predigten oder Gebete. Ich finde es faszinierend, dass eine Stadt so aufgeladen sein kann, dass sie so etwas Spezielles auslöst.
Als ich vor eine Weile mit einer Freundin in Jerusalem war, haben wir tatsächlich einen Mann gesehen, den wir dann nur noch den „Jesus“ genannt haben. Ein Amerikaner um die 60, klein, untersetzt, graue Haare und Bart. Er trug ein langes weißes Gewand mit einem Strick um den Bauch, ging barfuß und trug ein großes ledergebundenes Buch unter dem Arm, womöglich die Bibel. Überall an den heiligen Stätten war er da. Betete, lächelte oder saß einfach dort und hatte Zeit. Es war schon speziell überall wo wir hingingen, tauchte auf einmal dieser „Jesus“ auf. Nachher fingen wir schon richtig an, auf ihn zu warten oder nach ihm Ausschau zu halten und ihn als Glücksbringer zu sehen. Als wir dann von Jerusalem wegfuhren in Richtung See Genezareth ertappen wir uns dabei, dass wir uns fragten: Wann taucht denn wohl der „Jesus“ auf? Oder: Ach, jetzt fehlt nur noch der „Jesus“.
Abgesehen von dem skurrilen Erlebnis und von dem ernsten Hintergrund mag ich den Gedanken, dass Gott in meinem Alltag wirklich mitgeht, wenn auch unauffälliger - und hoffentlich besser gekleidet. Ich mag es, dass er an bestimmten Stellen immer wieder auftaucht, unverhofft am Wegesrand steht, einfach da ist. Und dass ich anfange, nach ihm Ausschau zu halten.