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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer im Ruhestand, Biebertal

Zuspätkomm-Tag

Zuspätkomm-Tag

Wenn heute Menschen zu spät zu einer Verabredung kommen oder zu spät am Arbeitsplatz erscheinen, wenn sie ganz einfach den späteren Bus genommen haben und dabei noch nicht einmal ein schuldbewusstes Gesicht machen oder nach einer plausiblen Entschuldigung suchen, dann sollten Sie sich nicht wundern: Heute ist der alljährliche Zuspätkomm-Tag. Den gibt es seit 2006. Nicht ganz ernst gemeint und mit einem Augenzwinkern soll er dazu anregen, es mit den verabredeten Zeiten nicht immer sklavisch genau zu nehmen und wenigstens einmal die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Deutschen zu ignorieren.

Heute, so meinen die Initiatoren, braucht die Verspätung keine Entschuldigung. Oder eine aus der Liste der völlig sinnfreien Ausflüchte. Etwa: "Im Aufzug stand ´für sechs Personen´. Und ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich die alle zusammen hatte". Oder: "Mein Körper erinnert sich manchmal daran, dass ich in einer anderen Zeitzone geboren wurde." Einmal ohne schlechtes Gewissen zu spät kommen. Der Vorschlag mag überraschen. Weil wir uns eigentlich doch sicher sind: Wer zu spät kommt,  den bestraft das Leben. Oder der Chef. Oder das eigene Pflichtbewusstsein. Und da ist ja etwas dran: Zumindest auf Dauer landen wir im Chaos, wenn sich keiner mehr an Termine und Verabredungen hält.

Aber es tut gut, einmal den Blick darauf zu lenken, dass es wichtigere Dinge gibt als Pünktlichkeit und Terminplanung. Meine Großmutter zum Beispiel ließ sich durch Menschen ganz gerne ablenken von ihrem Tagesplan. Da lag der Tisch voller Utensilien, die sie zum Einmachen brauchte: Gläser und Töpfe, Schüsseln mit Obst. Und wenn ich überraschend kam um sie zu besuchen, dann legte sie die Schürze auf die Seite, machte mit einer entschlossenen Armbewegung Platz auf dem Tisch und sagte: "Jetzt setz Dich erst einmal hierher." Und wenn auf der anderen Seite des Tisches ein Glas abstürzte, war ihr das nicht so wichtig. "Jetzt bist Du da. Und da ist alles andere Nebensache". Auch wenn sie das nicht sagte, war die Botschaft doch deutlich.

In dieser Hinsicht finde ich den Zuspätkomm-Tag anregend: Meine Terminplanung ist zwar wichtig. Und ich will für andere verlässlich sein. Aber ich will immer wieder im Auge behalten, dass es um Menschen geht. Mit meinem Terminkalender stimmt etwas nicht, wenn ich für sie weder Platz noch Zeit habe.