Verletzlich sein und zugleich stark
Meistens machen wir es uns zu einfach. Meistens denken wir in Gegensätzen. Hier schwarz – da weiß. Hier ist oben und dort unten. Die sind stark und die anderen schwach. So zu denken ist einfach. Und oft genug: falsch. Denn das meiste, was wir erleben, liegt dazwischen. Oder umfasst beides zugleich.
In dem Zusammenhang wird Jesus ein sperriger Satz zugeschrieben: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ (2. Korinther 12,9). Klingt merkwürdig und leuchtet nicht gleich ein. Kraft und Schwäche sind bei Jesus offensichtlich keine so großen Gegensätze, wie man meint. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Das lässt die in einem neuen Licht sehen, die gerne als schwach bezeichnet werden, die also nicht so schnell und so fit sind, nicht so leistungsfähig nach gängigen Maßstäben. Ihnen sagt Jesus seine Kraft zu.
Seit vier Wochen gibt es ein Buch, das behauptet etwas ähnlich Merkwürdiges. Der Titel: „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“. Zu den Autoren gehört Philippe Pozzo di Borgo. Er ist, seit er beim Gleitschirmfliegen abgestürzt ist, vom Hals an abwärts gelähmt. Pozzo di Borgo war 42 damals und bis dahin ein sehr reicher, sehr starker und sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Was er dann nach dem Unfall erlebt und gelernt hat, ist vielen durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ bekannt geworden. Allein in Deutschland haben den Film neun Millionen Menschen gesehen.
Verletzlich und stark – der Titel des Buches klingt in den Ohren der meisten Menschen wie ein krasser Gegensatz. Ist aber keiner. Das behaupten wenigstens die Autoren. Sie schreiben, dass unsere Stärke gerade darin liegt, dass wir verletzlich sind. Je mehr wir uns dessen bewusst sind, wo unsere Verletzungen, unsere Behinderungen und Einschränkungen liegen, desto besser gelingt uns das Leben.
Die sogenannten Behinderten aber sind für Pozzo di Borgo so etwas wie „Wächter“. Sie erinnern die anderen, uns, die wir oft vergessen, wie verletzlich wir sind, wieder daran, dass Fitness und Leistungsfähigkeit nicht ausschlaggebend für das Glück der Menschen sind. Die Gehandicapten wie er selbst hätten schließlich die Erfahrung gemacht, dass ein erfülltes Leben denen gelingt, die ihre eigene Schwäche nicht ignorieren, sondern akzeptieren.
Es ist gut, dass es unter uns diese „Wächter“ gibt – und dass sie sich zu Wort melden. Ihre Erfahrungen helfen mir und allen anderen, die wir oft genug verbergen, wie verletzlich wir sind. Verletzlich sein und stark sein – das ist kein Gegensatz.