Religiös unmusikalisch?
„Ich würde auch gerne glauben können, aber ich bin irgendwie religiös unmusikalisch“. Eine Kollegin sagt mir das und ich vermute, manche empfinden das ähnlich. „Der eine ist halt begabt für so etwas wie Musik und Religion“, denken sie „und die andere nicht“. Aber stimmt das wirklich? Könnte ja auch sein, dass wir oft nur die Chance verpassen, unsere Begabungen zu entwickeln.
Eine Zeitung in Washington hat dazu ein Experiment gemacht: An einem kalten Wintertag erklingt in einer U-Bahnpassage Geigenmusik, kunstvoll und virtuos. Mitten im Berufsverkehr. Der junge Musiker mit der Baseballkappe hat seinen Geigenkasten vor sich hingestellt, den Deckel offen. Nur wenige Passanten beachten ihn. Einige gehen etwas langsamer, um der wunderbaren Musik etwas länger zuzuhören. Manche halten kurz inne, aber der Blick auf die Uhr treibt sie weiter. Hin und wieder versuchen Kinder die Erwachsenen an ihrer Hand zum Stehenbleiben zu bewegen, aber die treiben sie entschlossen zur Eile an.
Nach einer Dreiviertelstunde klappt Joshua Bell den Geigenkasten zu und geht. Joshua Bell ist einer der besten Geiger der Welt. Er hat auf einer 3,5 Millionen Dollar-Stradivari Musik von Franz Schubert gespielt und eines der schwierigsten Musikstücke, die je geschrieben wurden, die quasi mehrstimmige „Chaconne in d-Moll“ von Johann Sebastian Bach. Zwei Tage zuvor hatte er genau dieses Konzert im Konzertsaal gespielt. Die Eintrittskarten dafür haben im Schnitt 100 Dollar gekostet.
Waren die meisten der mehr als 1000 Passanten unmusikalisch? Sind sie vielleicht auch „religiös unmusikalisch“? Ich denke, alle Menschen sind musikalisch, auch religiös, alle Menschen haben auch Sensoren für das, was über das Vorfindliche hinausgeht. Nur ist ihr Leben manchmal so fest eingezwängt in Termine und Pflichten, dass sie wenig Übung darin haben, das Besondere, das Religiöse um sie herum zu entdecken, obwohl sie es sich manchmal wünschen. Ein paar freie Gedanken, etwas Zeit zum Hinschauen und Erleben, das sind gute Voraussetzungen dafür, das Besondere nicht zu verpassen, so wie die Passanten das tollste Geigenstück der Welt.
Ich glaube, dass Gott allen Menschen besondere Augenblicke schenkt, in denen ihr Glaube beginnen oder wachsen kann. Von uns aus können wir sie nur erwarten, sie als Geschenk entdecken und annehmen.