Mit dem Tod auf Du und Du
Mitte August war ich zweimal auf dem Friedhof. Das eine Mal war der Anlass die Beerdigung eines Nachbarn. Viele Jahre haben wir nebeneinander gewohnt. Ich habe mich gefreut, dass ich noch ein paar andere Menschen aus unserer Straße dort gesehen habe. Selbstverständlich ist das ja schon lange nicht mehr, hier in der Stadt, dass die Nachbarn diesen letzten Weg mitgehen. Vielleicht ist es die Scheu, sich mitten am Tag mit dem Gedanken an den Tod zu befassen? Vielleicht ist es auch so, dass man Tod und Trauer für etwas eher Privates hält, dem man nicht zu nahe kommen möchte?
Der zweite Weg auf den Friedhof führte mich zusammen mit meinen Geschwistern und unserer alten Mutter zum Grab unseres Vaters. Er hätte an diesem Tag seinen 100. Geburtstag gehabt. Eine Geburtstagsfeier auf dem Friedhof? Na ja, vielleicht keine ausgelassene Feier, aber eine Art feierliches Treffen war das schon. Frische Blumen kamen aufs Grab, wir haben zusammen eins seiner Lieblingslieder gesungen und ein Vaterunser gebetet. Wir alle waren eher heiter als traurig am Grab – unser Vater ist schon seit fast zwanzig Jahren tot. Beide so unterschiedlichen Friedhofsbesuche im letzten Monat bedeuten mir etwas. Denn sie erinnern mich daran, dass mein Leben nicht unendlich weitergehen wird. Ich begegne auf diese Weise dem Sterben mitten im Leben. Das hilft mir, so könnte man das nennen, abschiedlich zu leben.
Ich denke, dass ich das zu lernen habe: im Leben den Abschied schon im Blick zu haben. Das macht das Leben ja nicht schwieriger. Vielleicht sogar in der einen oder anderen Weise leichter. Ist es nicht so: Wer ans Ende denkt, muss nicht so viel festhalten, muss nicht klammern. Kann sich besser auf den Augenblick einlassen und ihn intensiver erleben. Abschiedlich leben – das geht am besten, wenn ich hin und wieder ans Ende meiner Zeit denke. Und an den unausweichlichen Tod als letzten Abschnitt meines Lebens hier auf der Erde.
Franz von Assisi hat sich den Tod, das Sterben des Körpers, so vertraut gemacht, dass er von ihm als „Schwester Tod“ gesprochen und gesungen hat. Der Tod war für ihn nicht ein Feind, nicht eine fremde Macht. Sondern eben „sora nostra“ – die Schwester, die ihn einmal in die andere Welt führen wird. Wer so empfindet, wer mit dem Tod sozusagen per Du ist, kann wohl besser in die eigene Endlichkeit einwilligen. Vielleicht sind es wirklich die Gedanken und die Erinnerung an die, die vor uns gelebt haben, den Vater, die Ahnen, die uns helfen, dem Tod nicht auszuweichen, sondern ihn anzunehmen.