Manchmal tut Nähe gut, manchmal Abstand
Selbst Menschen, die sich kaum kennen, umarmen sich zur Begrüßung und hauchen einander rechts und links ein Küsschen auf die Wangen. Seit einigen Jahren ist diese „Bussi-Bussi-Kultur“ auch in Deutschland, vor allem in den Städten, gang und gäbe. Manche finden so viel Nähe schön. Anderen aber fehlt der Mindestabstand einer Armlänge, diese 60 cm-Distanz, die zeigt, dass ich mein Gegenüber zunächst mal respektiere. Und nicht ungefragt gleich in eine intime Nähe ziehe. Den Atem zu hören, sich dem Geruch des fremden Körpers auszusetzen und die Berührung an Hals und Gesicht zuzulassen, das war eigentlich einmal den Eltern mit ihren Kindern vorbehalten. Oder dem Liebespaar.
Die Bussi-Bussi-Kultur hat – so scheint es mir – auch in der Religion Einzug gehalten. Wir ziehen Gott nahe an uns heran, den lieben Gott, machen es uns mit ihm geradezu gemütlich bei uns zu Hause. So kann es passieren, dass der Respekt auf der Strecke bleibt. Wer sich Gott so nahe glaubt, der ist auch schnell dabei, über ihn zu verfügen, Gott zum Erfüllungsgehilfen der eigenen Wünsche zu machen. Und nicht damit zu rechnen, dass Gott uns fern und fremd begegnet. Und uns auch mal widerspricht.
Das ist übrigens nicht erst unser Problem. In der Bibel steht eine irgendwie zornig klingende Frage, die Gott an die Menschen stellt: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (Jeremia 23,23) In meinen Ohren klingt das so, als würde sich Gott über eine verlorene Distanz beklagen. Wer Respekt will, sucht nicht zugleich auch Nähe.
Distanzverlust. Das gibt es nicht nur im Körperlichen. Auch bei der Sprache scheint immer wieder mal der gebotene Abstand abhanden zu kommen und der erwartete Respekt voreinander muss erst eingefordert werden. Beim Verhältnis von Männern und Frauen wird deutlich, dass die Grenzen und das, was dem anderen gut tut, nicht mehr selbstverständlich sind. Was einer für ein Kompliment hält, ist für andere sexistische Anmache. Wie nah darf ich jemandem kommen? Wie viel Abstand brauchen wir beide, damit der Respekt erhalten bleibt?
In jeder Beziehung, ja bei jeder Begegnung muss das neu geklärt werden. Es ist wie bei Gott. Der ist mir mal nah und dann wieder fern. Und ich muss fragen, wie wir uns begegnen können. Vielleicht ist es heute nur mit Abstand möglich. Aber dem kann schon morgen eine liebevolle Umarmung folgen.