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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer im Ruhestand, Biebertal

Leben mit angezogener Handbremse

Leben mit angezogener Handbremse

Meine Oma konnte es absolut nicht leiden, wenn ich als Kind zu übermütig war und mit meiner Fröhlichkeit ein wenig übers Ziel hinausschoss. Sie hatte dann einen Satz parat, dessen Wirkung sie durch den ausgestreckten Zeigefinger noch verstärken wollte: "Vögel, die zu lustig sind, kriegt die Katz!"  Ich habe diesen Satz nirgendwo anders gehört. Vielleicht hat sie ihn erfunden. Und wenn ich mir wieder einmal das Knie aufgeschrammt hatte und weinte, dann gab es auch immer eine erzieherische Maßnahme von Oma: "Du willst doch ein Mann werden. Und Männer weinen nicht." Ansonsten mischte sie sich in meine Erziehung nicht ein, aber diese beiden Sätze mussten sein.

Sie hatte offensichtlich ein Lebenskonzept, dass allzu große Amplituden in ihrem Gefühlshaushalt, ob nach oben oder nach unten, nicht vorsah. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie einmal herzlich gelacht hätte. Offensichtlich hatte sie den Eindruck: Sie muss die Kräfte, die ein Gefühlsausbruch ihrer Meinung nach kostet, einsparen und aufheben, um sie an schweren Stunden einzusetzen, die ganz gewiss folgen werden. Und in der Tat: Schicksalsschläge, die einen Menschen umhauen können, trug sie mit Fassung. Sie sagte: "Ich nehme alles aus Gottes Hand" und lebte damit in einer gleich bleibenden mittleren Gefühlslage.

Eigentlich schade. Denn ich glaube, wer so lebt, der verpasst Wesentliches im Leben. Weil die Fahrt durchs Leben mit angezogener Handbremse nicht gerade vergnüglich ist. Und weil die ständige Kontrolle der eigenen Gefühle nicht nur viel Kraft und Selbstdisziplin kostet, sondern auch krank machen kann. Der Prediger Salomos in der Bibel weiß, was er tut, wenn er allen Gefühlen ihren Platz und ihre Zeit einräumt: Weinen har seine Zeit. Lachen hat seine Zeit. Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit (Prediger 3,4).

Ich lache und tanze, wenn mir danach ist. Ja, und auch Weinen und Klagen gehört zum Leben. Im Gegensatz zur Überzeugung meiner Oma sind auch Männer dazu fähig. Und wir sollten uns nicht verstecken oder uns gar schämen, wenn es so ist. Wir werden jedenfalls die Höhen und Tiefen des Lebens nicht durch eigene Kraft und Selbstdisziplin bewältigen, sondern dadurch, dass wir in Freude und Leid auf Gottes Beistand hoffen.