Ja sind wir denn alle Schafe?
Eine Lehrerin hat ihre Grundschulkinder den 23. Psalm auswendig lernen lassen. Vorher haben sie über den Inhalt gesprochen. Was das bedeutet: „Der Herr ist mein Hirte – mir wird nichts mangeln.“ Der Psalm 23 aus der hebräischen Bibel ist der Lieblingspsalm ganz vieler Menschen. Warum eigentlich? Tut es gut, in Gott den Hirten zu sehen und wir sind dann Schafe? Das ist doch eigentlich keine attraktive Vorstellung!
Es hat mich schon berührt, als ich die Mädchen und Jungen das habe sprechen hören: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ Erstaunlich ist, erzählt die Lehrerin, wie schnell die Kinder verstehen, was dieses Bild ausdrückt. Und mit ihrem eigenen Leben zu tun hat: ich bin nicht alleine, ich werde versorgt, auf mich passt einer auf.
Als der Opa eines dieser Jungen stirbt, steht beim Gespräch mit der Familie ein anderer Vers des 23. Psalms im Raum – „der hat meinem Mann so viel bedeutet“, sagt seine Frau: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Da wird der Psalmvers zur Hilfe, den eigenen Lebensweg zu deuten und auch das Sterben. Gott führt dich aus der Not, und das Tal des Todes brauchst du nicht zu fürchten.
In jüdischen Familien wird der Psalm 23 traditionell beim letzten Essen am Schabbat gesungen. Er eröffnet eine Perspektive für die neue Arbeitswoche, die tröstlich ist und Mut macht: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde!“ Die Rabbinerin Elisa Klapheck von der jüdischen Gemeinde in Frankfurt überträgt diese Zeile heute so: „Du wirst vor mir einen Tisch bereiten, gegenüber meinen Problemmachern machst du mich stark!“ Auch wenn ich niemanden als meinen Feind bezeichnen würde – Leute, die einem Probleme machen, kenne auch ich. Und diesen Menschen und den Problemen, die sie mir machen, geradezu zum Trotz deckt mir Gott den Tisch, schenkt mir den Becher voll und lässt mich sein Gast sein. Der alte Psalm hat etwas unverschämt Trotziges an sich.
Wie schön, wenn dieses wunderbare Psalmlied in der Schule eingeübt wird und so – bei allem, was an religiösen Traditionen sonst verloren gehen mag – überlebt. Nicht, weil es uns zu Schafen macht, sondern weil es davon singt, woher wir Kraft bekommen können.