Ich starte mit einem Abendlied in den neuen Tag
Zugegeben: so früh am Morgen ist es nicht leicht, vom Abend zu sprechen. Die Nacht ist gerade vorbei. Und bis zum Sonnenuntergang heute Abend sind es noch gute 16 Stunden Zeit. Ich werde es trotzdem versuchen. Denn wenn von der hereinbrechenden Nacht die Rede ist, geht es ja manchmal gar nicht um eine Tageszeit. Es gibt auch eine Nacht, auf die unser Leben zusteuert am helllichten Tag.
Für den 51jährigen Pfarrer Henry Francis Lyte in dem südenglischen Fischerdorf Brixham war es die Diagnose seines Arztes, die sich wie schwarze Nacht über sein Leben legte. 1844 war das, als er erfuhr, dass er Tuberkulose hatte. Drei Jahre lebte er noch, immer schwächer werdend, mit dieser Krankheit. Schließlich stand er zum letzten Mal auf der Kanzel und verabschiedete sich von seiner Gemeinde. Am Nachmittag des selben Tages setzte er sich nach einem Spaziergang am Strand für eine Stunde an seinen Schreibtisch, um den Text eines Liedes aufzuschreiben, das zu den beliebtesten Liedern der anglikanischen Kirche werden sollte „Abide with me“ – Bleibe bei mir.
Das Lied wurde bei der Beerdigung von Henry Francis Lyte zum ersten Mal gesungen. Dann aber wurde es zum Lieblingslied des Englischen Königs George V ebenso wie von Mahatma Gandhi. Es wurde bei der Hochzeit von Königin Elisabeth gesungen, aber auch bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele letztes Jahr in London. Das Lied hat inzwischen auf deutsch auch einen Platz in unseren Gesangbüchern gefunden:
„Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein. Es kommt die Nacht, die Finsternis fällt ein. Wo fänd ich Trost, wärst du mein Gott nicht hier? Hilf dem, der hilflos ist: Herr, bleib bei mir!“ Und dann, in einem anderen Vers: „Von deiner Hand geführt, fürcht ich kein Leid, kein Unglück, keiner Trübsal Bitterkeit. Was ist der Tod, bist du mir Schild und Zier? Den Stachel nimmst du ihm: Herr, bleib bei mir!“
Abide with me – ich glaube, das Lied hat auch darum eine solche Verbreitung erfahren, weil es so ehrlich ist und weder Leid noch Tod ausklammert. Es singt in aller Deutlichkeit von der Nacht, die unser Leben bedroht. Aber eben auch von der Zuversicht, dass da ein fester und verlässlicher Halt in Gott ist. Und davon kann in der Tat bei der Beerdigung eines lungenkranken Pfarrers genauso gesungen werden wie bei der Hochzeit einer Königin. Es ist ein Abendlied, mit dem ich auch voller Hoffnung in jeden neuen Tag starten kann.