Fingerspitzengefühl
Fingerspitzengefühl ist so eine Sache. Man kann\'s nicht verordnen. Eine Entscheidung kann rechtlich formal einwandfrei sein. So ist es bei der Zulassung von türkischen Medien beim NSU-Prozess in München. Oder bei einem Sitzplatz für den türkischen Botschafter beim Prozess. Beides im Moment noch abgelehnt. Genauso abgelehnt das Angebot einer deutschen Zeitung, ihren Platz für eine türkische zu räumen. Für einen juristischen Laien wie mich kaum zu glauben. 8 von 10 Menschen, die ermordet wurden, hatten türkischen Hintergrund. Wenn ich überlege, wie das andersrum wäre, wenn irgendwo 10 Deutsche ermordet wären und unsere Presse dann vor Ort im Gerichtssaal nicht präsent sein könnte. Das käme nicht gut an.
Es mag ja alles seine Richtigkeit gehabt haben mit der Zulassung für die, die sich am schnellsten angemeldet haben. Aber juristisch einwandfrei ist die eine Sache. Jedoch eine andere, ob etwas moralisch gerechtfertigt oder gar barmherzig ist.
Werden wir Bilder sehen, wie der türkische Botschafter sich frühmorgens in der Schlange anstellt, um in den Sitzungssaal zu gelangen? Kaum jemand würde das wirklich verstehen, wenn es einem deutschen Diplomaten so ergehen würde. Es ist doch wichtig, dass sich gerade ausländische Medien ein Bild davon machen können, wie unser Rechtsstaat die schrecklichen Morde beurteilt.
Fingerspitzengefühl ist eine Sache. Und sich auf eine rein formale Methode zu berufen, das Andere. Jesus ist da ein gutes Beispiel. Er stellte religiöse Traditionen seiner Zeit vom Kopf auf die Füße. Jesus diskutierte mit den Hütern der Tradition und mahnte, wo es denen an Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen fehlte. Wo Menschen nur auf dahergebrachte Handlungsmuster starrten und das tatsächliche Problem eines Menschen darüber vernachlässigten. Ich finde, oft sticht Barmherzigkeit rein formalistische Gerechtigkeit aus. Wie man das merkt? Mit etwas Fingerspitzengefühl. Das geht aber verloren, wenn einer bei einer Entscheidung mit der Faust auf den Tisch haut oder nur mit dem Zeigefinger auf eine Verordnung tippt. Fingerspitzengefühl kann man nicht verordnen – aber es hilft.
