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Kristen, Dr. Peter

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt

Entschuldigungen sind Zweiteiler - zum 100. Geburtstag von Willy Brandt

Entschuldigungen sind Zweiteiler - zum 100. Geburtstag von Willy Brandt

Er war Bürgermeister von Westberlin, der erste SPD-Bundeskanzler und hat den Friedennobelpreis bekommen. Willy Brandt wäre heute 100 Jahre alt geworden. Etwas, was er getan hat, ist mir besonders wichtig. 1970 hatte Bundeskanzler Willy Brandt einen Kranz niedergelegt, am Denkmal für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden, wie üblich die Schleife gerichtet und dann spontan das Protokoll durchbrochen: Auf den nassen Stufen vor dem Denkmal kniete er nieder, senkte den Kopf und schwieg. Für die ganze Welt sichtbar machte er sich klein und bat so um Entschuldigung - ohne ein einziges Wort.

Egon Bahr, Brandts Weggefährte, der damals dabei gewesen ist, hat erzählt, dass ihm Brandt später gesagt hat: „Ich hatte plötzlich das Gefühl, Kranz niederlegen reicht nicht.“ In seinen „Erinnerungen“ schreibt Willy Brandt selbst: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Das ist die erste Hälfte einer Entschuldigung: Schuld anerkennen, Unrecht bereuen, sich klein machen und so ehrlich um Entschuldigung bitten, auch wenn die Sprache versagt. Entschuldigungen sind aber Zweiteiler. Damit sie gelingen, muss jemand die Bitte bemerken, jemand, der bereit ist zu verzeihen. Der den auf den Knien wieder aufrichtet, damit beide weiterleben können.

Wie dieser zweite Teil einer Entschuldigung ganz ohne Worte, gelingen kann, erzählt ein Gleichnis in der Bibel: Ein Sohn hatte sein ganzes Erbe verprasst. In der Not hatte er seinen Fehler erkannt und war zu seinem Vater zurückgekehrt, reumütig und schuldbewusst. Den ersten Teil, die Bitte um Entschuldigung, spricht er aus: „Vater, ich habe Schuld auf mich geladen, vor Gott und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“ (Lk 15,21) Im zweiten Teil tut der Vater, „was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“: Er läuft seinem Sohn entgegen, nimmt ihn in die Arme und küsst ihn. Ohne Worte spüren beide: Jetzt fängt ein neues Leben an.

Im Rückblick wissen wir, dass Willy Brandts stumme Bitte damals in Warschau von vielen erhört worden ist. Sie hat Europa und die Welt heilsam verändert. Entschuldigungen sind Zweiteiler. Wo beide Teile gelingen, schaffen sie neues Leben, mit aufrichtigen Worten oder sogar ganz ohne.