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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Die kluge Form der Nächstenliebe: überströmen, nicht ausströmen!

Die kluge Form der Nächstenliebe: überströmen, nicht ausströmen!

Es gibt ein paar Menschen, um die ich mir richtig Sorgen mache, weil sie sich förmlich aufopfern für andere. Der alte Vater wird rund um die Uhr gepflegt, für die Kinder steckt man auch zurück, und selbst ist man längst am Ende der Kräfte. Soll so Nächstenliebe aussehen?

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ In der jüdischen Tora steht dieser uns vertraute Satz. Und auch in anderen Religionen kann man so etwas wie ein Gebot der Nächstenliebe finden. Das biblische Gebot der Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber ist oft mit der Forderung der Selbstlosigkeit gleichgesetzt worden. Doch das ist falsch. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst – eben: wie dich selbst. Das bedeutet nun gerade nicht: vergiss jede Eigenliebe, jede Selbstliebe, verströme dich ganz und gar für die anderen. Denn es ist ja klar: wer nur an die anderen denkt – und sich selbst dabei ganz aus den Augen verliert – ist irgendwann ausgebrannt, leer, erschöpft.

Dem berühmten französischen Abt Bernhard von Clairvaux ist das offensichtlich auch durch den Kopf gegangen. Vor neunhundert Jahren hat er sein Verständnis von gütiger und zugleich kluger Nächstenliebe so beschrieben: „Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal. Der Kanal empfängt  fast gleichzeitig und gibt weiter, während die Schale  wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt die Schale das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.“

Mir gefällt, was Bernhard von Clairvaux da sagt. Bernhard hieß übrigens eigentlich Bernard de Fontaine – weil er auf dem gleichnamigen Schloss geboren ist. Und das französische Wort Fontaine heißt nichts anderes als Quelle oder Brunnen. So ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass er das Bild der Quelle, der Schale, des fließenden Wassers benutzt, um seinen Gedanken auszumalen. Er schreibt weiter: „Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen…“ Das ist ein Stück praktische Lebenshilfe aus dem Mittelalter: Überströmen – nicht ausströmen. So geht Nächstenliebe. Ich werde ein paar Menschen, um die ich mir richtig Sorgen mache, von dieser alten Weisheit erzählen.