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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Die Kehrtwende im Bewusstsein

Die Kehrtwende im Bewusstsein

Vielleicht musste erst solch ein furchtbares Verbrechen passieren, um ein Umdenken in Gang zu bringen, eine radikale Kehrtwende im Bewusstsein. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in Indien nicht ungewöhnlich. Im Schnitt wird, so lese ich, jede halbe Stunde eine Frau vergewaltigt. 2011 wurden über 24.000 Vergewaltigungen angezeigt. Und noch viel mehr werden gar nicht erst aktenkundig.

Doch nun scheint für viele Menschen das Maß endgültig voll zu sein. Sie hoffen, dass dieses besonders brutale Verbrechen die Gesellschaft aufschreckt, Justiz und Polizei wachrüttelt. Selbst für die Ermittler, die einiges gewöhnt sind, war es kaum erträglich, die Liste der brutal zugefügten Verletzungen der Studentin aus Delhi zur Kenntnis zu nehmen. Die mutmaßlichen Täter und ihre Tat werden von den meisten Menschen einhellig verurteilt. Besonders die Frauen gehen auf die Straße, weil in der Vergangenheit oft genug Gewalt gegen Frauen vertuscht oder bagatellisiert worden ist.

Inzwischen scheinen Polizei und Justiz, aber auch die Regierung alarmiert zu sein. Das Verfahren wurde überraschend schnell eröffnet, ein neuer Gesetzesentwurf für Sexualverbrechen in Auftrag gegeben, von Kastration und Todesstrafe ist die Rede. Aber geht es wirklich nur um das gerechte Strafmaß?

Ich denke: Vielleicht sollen die Menschen auf der Straße auch nur beschwichtigt werden, wenn etwa der Premierminister nach harten Strafen ruft. Es geht inzwischen aber um mehr, es geht um eine grundsätzliche Kehrtwende. Die Gewalt gegen Frauen muss unterbrochen werden, staatliche Willkür beendet werden. Die Menschen fordern Rechte – nicht nur für die Eliten, sondern für alle, eben auch für Frauen. Ich bin wütend. Und ich hoffe, dass das besonders grausame Martyrium der jungen Studentin Anstoß dazu ist, etwas zu verändern, nicht nur in Indien.

Mir ist ein Text von Dietrich Bonhoeffer eingefallen, der von den Nazis ermordet wurde. Er hat gesagt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ Im Fernsehen sehe ich, dass viele der Demonstranten beten. Ich stelle mir vor, dass sie genau darum bitten: dass Gott aus dem furchtbaren Schicksal dieser Studentin Gutes entstehen lässt. Und dass irgendwann das Gute auch ohne solche Opfer möglich ist.