Die Gedanken sind selbst in China frei!
Die Notiz in unserer Zeitung war ziemlich kurz. Der Dresdner Kreuzchor hat – so war da zu lesen – vor seiner China-Tournee ein geplantes Lied wieder aus dem Programm genommen. Die deutsche Agentur, die die sechs Konzertauftritte des Chores in China organisiert hat, hatte das vorsorglich empfohlen. Denn das Lied, um das es geht, heißt: „Die Gedanken sind frei“.
Die Gedanken sind frei – natürlich: das hätte man in China als das verstehen können, was es ist. Als ein Lied, das gegen alle Gewalt und Willkür der Herrschenden die Freiheit des Geistes betont und lobt. Dass der renommierte Knabenchor aus Dresden aus Angst vor einem Eklat das Lied aus dem Repertoire streicht, ist nur schwer zu verstehen. Hätte man denn nicht den Versuch machen können, von der Freiheit der Gedanken wenigstens ein bisschen zu singen, auf Deutsch, als historisches Zitat sozusagen?
Offensichtlich hat das Lied, das gut zweihundert Jahre alt ist, an Aktualität und Sprengkraft nichts eingebüßt. Wie heißt es im Text? „Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke; denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.“
Es gibt eine kleine historische Begebenheit, an die ich besonders bei diesem Vers denke. Der Vater der berühmten Geschwister Scholl, Robert Scholl, war 1942 verhaftet worden. Er hatte Adolf Hitler als – wörtlich – „Geißel Gottes“ bezeichnet. Die Familie ist in Angst um den Vater. Was kann man tun, um ihm im Gefängnis beizustehen? Seine ein Jahr später ermordete Tochter Sophie, damals 22 Jahre alt, hat sich abends an die Gefängnismauer gestellt und für ihren inhaftierten Vater auf der Blockflöte die Melodie dieses Liedes gespielt: „Die Gedanken sind frei!“
Lieder und Gedanken können Schranken zerreißen und Mauern überwinden. Das ist eine uralte Erfahrung. Schon in der Bibel finden sich solche trotzigen und widerständigen Lieder. Die entstehen immer dann, wenn Menschen unterdrückt werden, wenn Verhältnisse unerträglich geworden sind. Diese Lieder bewahren über Jahrtausende ihre Kraft. Sie schlagen eine Brücke vom Kampf der Einen zum Aufstand der Anderen. Nur gesungen und gespielt müssen sie werden!
Ich hoffe, dass der Kreuzchor bald wieder nach China reisen kann. Dann könnte er sich dieses Mal (so wie Sophie Scholl damals an die Gefängnismauer) sozusagen an die chinesischen Mauern stellen und das alte Lied von der Gedankenfreiheit singen, wenigstens leise summen. Selbst wenn diese Botschaft von der Freiheit der Gedanken nur von ein paar wenigen verstanden würde, es wäre unendlich wichtig und wertvoll.