Am Morgen das Ziel des Abends sehen
Kurz vor sechs. Um diese Zeit sind manche Menschen in Hessen noch im Bett. Andere sind gerade aufgestanden, im Bad, die Zahnbürste im Mund, beim Frühstückmachen für die Kinder, oder schon unterwegs zur Arbeit. Welche Gedanken hat man am Anfang eines Tages? „Vergiss deinen Termin nicht“, „stell die Mülltonne raus, es ist Donnerstag“, „du bist dran die Kinder abzuholen…? Manche Gedanken gehen noch weiter in die Zukunft: Nur noch ein Arbeitstag, dann ist Wochenende, bald sind ja Osterferien, da gönne ich mir ein paar Tage Ruhe. Wenn es bloß schon Sommer wäre. Aber manchmal gibt’s auch schon morgens richtige Sorgen. Wie: Schafft das Kind den Schulabschluss? Oder: Werde ich noch gesund sein, im Ruhestand, wenn es jetzt schon so im Rücken zwickt? Sorgen am Morgen können ganz schön erdrückend sein. Das, was mich vielleicht erwarten könnte, morgen oder übermorgen, irgendwann drängelt sich vor, droht den ganzen Tag hineinzuziehen.
Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Pfarrer, der in der Nazizeit sein Leben lassen musste, hat das wohl auch gekannt. In einer Predigt hat er sein Gegenmittel verraten: Er sagt: „Jeder neue Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Jeder Tag ein abgeschlossenes Ganzes. Der heutige Tag ist die Grenze unseres Sorgens und Mühens. Gott hat Tag und Nacht erschaffen, damit wir nicht im Grenzenlosen wanderten, sondern schon am Morgen das Ziel des Abends sähen.“ So weit Bonhoeffer. Er hat so was Selbstverständliches wie Tag und Nacht verstanden als etwas, was mir mein Leben leichter macht, mir hilft, mich zu orientieren.
Weil ich ja doch nicht wirklich weiß, was mich morgen erwartet, kann ich diesen Tag zuversichtlich beginnen und ihn dann am Abend auch bewusst beenden, auch mit allen Sorgen und Mühen. Bonhoeffer sagte: „In die ersten Augenblicke des neuen Tages gehören nicht eigene Pläne und Sorgen, sondern Gottes befreiende Gnade, Gottes segnende Nähe“. Ich will mich daran erinnern, wenn in ein paar Minuten die Sonne aufgeht: Was mich heute erwartet, dieser Tag, hat seine Grenze am Abend. Und morgen, morgen ist dann die Gnade Gottes neu.