Was wir so Wahrheit nennen ...
Alfred wollte sich einen neuen Fotoapparat kaufen. Zum ersten Mal eine digitale Spiegelreflexkamera mit einem hochwertigen und leistungsfähigen Objektiv. Er hat sich gründlich informiert, hat die einschlägigen Fachgeschäfte durchstreift, ist im Internet auf die Suche gegangen, hat Prospekte gesammelt und beim Discounter nach den besten Preisen geschaut. Am Anfang schwirrten ihm die Namen durch den Kopf: Canon und Nikon und Pentax und Olympus und und und... Er verglich Megapixel und Brennweiten und Lichtstärke und Preis. Alles nahm er zur Kenntnis und schwankte lange, für was er sich entscheiden sollte. Es ging ja schließlich um einige hundert Euro. Schließlich stand für ihn fest: Die soll es sein und keine andere.
Inzwischen hat sich Alfred einigermaßen an seine neue Kamera gewöhnt. Einigermaßen, weil er schnell eingesehen hat, dass er nur einen kleinen Teil von dem beherrschen wird, was dieses kleine technische Wunderwerk alles kann.
Etwas hat sich geändert, seitdem er sie hat: Wenn in der Zeitung Werbung für seine Kamera gemacht wird, liest er sich alles aufmerksam durch und freut sich nachträglich über seine Wahl. Werbung für die Konkurrenzprodukte überblättert er. Beim neuesten Warentest geht sein suchender Finger an der Liste der Artikel entlang, bis er seinen Fotoapparat gefunden hat. Hoffentlich mit einer guten Bewertung. Sonst vergisst er das Ganze schnell wieder.
Alfred tut alles, um im Nachhinein zu rechtfertigen, dass er sich richtig entschieden hat. So wählt er die Informationen dann auch aus, die er an sich heran lässt. Was verunsichern könnte, das perlt an ihm ab wie an einem Regenmantel.
Psychologen sagen: Das ist normal. Menschen versuchen, ihr inneres Gleichgewicht zu bewahren, indem sie Informationen auswählen, die sie bestätigen und nicht verunsichern. Wer das weiß, wird allerdings etwas vorsichtiger mit dem Begriff "Wahrheit" umgehen. Es gibt Wahrheiten, die für uns stimmen, die wir uns aber bei Licht besehen so zurecht gelegt haben, dass sie unser seelisches Gleichgewicht nicht stören.
Deshalb glaube ich: Es gibt keinen Menschen, der die Wahrheit gepachtet hat oder sie sogar besitzt. Wir werden sie erst dann erkennen, wenn einmal alle Rätsel der Welt und des Lebens gelöst sein werden.