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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Stellvertretendes Handeln gehört zur christlichen Kultur

Stellvertretendes Handeln gehört zur christlichen Kultur

Es gibt Bilder, die bleiben. In ihnen kommt soviel zum Ausdruck, soviel Gefühl, soviel Haltung, soviel Wahrheit, dass sie sich in den Köpfen und Herzen der Menschen fest einprägen. Zu diesen Bildern gehört für mich ein Foto von Willy Brandt. Es stammt aus dem Jahr 1970. Der damalige Deutsche Bundeskanzler kniet auf nassem Stein im ehemaligen Ghetto von Warschau. Vorher hatte er dort am Ehrenmal für die Opfer des Ghettos einen Kranz niedergelegt. Und dann kniet er nieder und verharrt dort mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf eine halbe Minute. Es gibt Bilder, die bleiben.

Heute jährt sich der Todestag von Willy Brandt zum 20. Mal. Am 8. Oktober 1992 ist er im Alter von 78 Jahren gestorben. Brandts Leben ist facettenreich und voller großer politischer Ereignisse gewesen. Was er aber damals in der polnischen Hauptstadt Warschau getan hat, dieses stumme Niederknien an dem Ort, an dem 30 Jahre vorher die Nazis barbarisch gewütet hatten, das hat ihn für die politische Kultur in Europa bedeutender gemacht als alles andere.

Das Besondere an diesem Niederknien war, dass Willy Brandt in der Zeit des Faschismus gar nicht in Deutschland gelebt hat. Dass er also nicht zu den Tätern, nicht einmal zu den Mitläufern gehört hat. Brandt war Anfang der dreißiger Jahre nach Norwegen ins Exil gegangen. Er war norwegischer Staatsbürger geworden und erhielt erst drei Jahre nach dem Ende des Kriegs wieder die deutsche Staatsbürgerschaft. Und ausgerechnet dieser Mann kniet sich in Polen vor den Opfern des deutschen Unrechts nieder. Stellvertretend.

Viele haben das nicht verstanden. Die Mehrheit der Deutschen hat – wie eine Umfrage damals ergab – die Geste des Kanzlers für „übertrieben“ gehalten. Seit wann gehört ein Kniefall zur politischen Kultur? Ich glaube, Brandt hat da schlicht ein Stück christlicher Kultur für die Politik ausgeliehen.

Der „Spiegel“ schrieb damals: "Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können." (DER SPIEGEL 51/1970).

Es gibt Bilder, die bleiben. Wäre schön, wenn auch das Bestand hätte: dass manchmal einer stellvertretend für andere etwas tun kann, weil die. „…es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können."