hr1 ZUSPRUCH
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Zöllner, Ute

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin i.R., Pastoralpsychologin, Kassel

Grenzen anerkennen

Grenzen anerkennen

„Gestern“, erzählt meine Kollegin Sabine, „saß ich mit jemandem in der Kantine zu Tisch, der meinte, er lebe ganz entgrenzt.“ Beim Erzählen hat sie ein wenig, aber nicht richtig und schon gar nicht herzhaft gelacht. „Entgrenzt leben, was ist das denn?“ habe ich sie gefragt. „Überhaupt, was meint er denn damit: `entgrenzt leben`? „Naja“, erzählte sie weiter, „wir haben darüber gesprochen, wie und wofür wir uns engagieren. Da hat er mir seinen Kalender zwischen den Tellern über den Tisch geschoben. Die Seiten waren vollgeschrieben mit Terminen - und das mit seiner ganz kleiner Handschrift. kaum zu erkennen. Übrigens fand er es selber ein bisschen komisch, wie er sich sein Leben einrichtet.

Entgrenzt leben, so komisch ist das eigentlich gar nicht, haben wir dann weiter überlegt. Im Grunde kommen wir jeden Tag an diesen Punkt, an dem wir entscheiden müssen: Bis hierher, oder doch noch weiter. Und es gibt eine Triebfeder, einen Wunsch, weiterzumachen, einfach nicht aufzuhören. Dabei ist der Wunsch, die Grenzen der eigenen Kräfte zu überschreiten, in jedem von uns vorhanden. Wenn die jungen Leute eine Nacht in der Disco durchtanzen, dann ist das eigentlich etwas ganz Ähnliches.

„Oder denk` nur mal daran, wie es sich anfühlt, in einer hohen, gotischen Kirche zustehen“, habe ich geantwortet. Da hat man auch den Eindruck, dass es weiter nicht mehr geht. Immer höher wurden die Pfeiler gemauert, bis in den Himmel hinein. Grenzen aufzulösen verbindet sich mit dem Wunsch, sich mit etwas Größerem zu verbinden, über sich selber hinauszuwachsen. Reizvoll, aber tückisch – weil die Kräfte begrenzt sind. Deswegen heißt es wohl auch: Lass dir an meiner Gnade genügen (Neues Testament, 2. Korintherbrief Kapitel 12, Vers 9). Entgrenzt leben – Gott kommt es nicht auf einen voll gespickten Terminkalender an. Lass dir an seiner Gnade genügen, denn seine Kraft ist in den Bedürftigen mächtig.