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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

EM 2012: Wir sind Gäste bei versöhnten Nachbarn

EM 2012: Wir sind Gäste bei versöhnten Nachbarn

Das Warten hat ein Ende. Heute Abend um sechs beginnt die Fußball Europameisterschaft. Das Eröffnungsspiel wird in der polnischen Hauptstadt Warschau angepfiffen: Griechenland tritt gegen den Gastgeber Polen an.

Gut, ich gehöre eher zu den Leuten, die nicht sonderlich fußballbegeistert sind. Aber bei Länderspielen, einer WM oder auch jetzt der Europameisterschaft ist mein Interesse da. Und diese EM in Polen und der Ukraine finde ich nicht nur wegen des Fußballs aufregend. Mich beschäftigt auch die politische Dimension. Wenn man sich die Geschichte dieser Städte anschaut, in denen EM-Spiele stattfinden, hat man gleich ein kompliziertes Kapitel europäischer Zeitgeschichte aufgeschlagen.

Zum Beispiel heute Abend, das zweite Spiel um viertel vor neun, Russland gegen Tschechien in Wroclaw oder Breslau, wie der deutsche Name heißt. Diese Stadt an der Oder ist heute die viertgrößte Stadt Polens. Lange Zeit war sie aber eine deutsche Stadt. Vor hundert Jahren etwa haben bei einer Umfrage 95 Prozent der Einwohner Breslaus als ihre Muttersprache Deutsch angegeben. In den letzten Kriegsmonaten ’45 wurde vor der anrückenden Roten Armee fast die ganze deutsche Bevölkerung auf Befehl des Gauleiters evakuiert. In schweren Kämpfen Anfang Mai 45 kamen rund 170.000 Menschen ums Leben, die in Breslau geblieben waren.

Aus Breslau wurde Wroc?aw. Dorthin sind damals viele Menschen aus Lemberg umgesiedelt worden. Denn die damals noch polnische Stadt Lemberg wurde 1945 von der Sowjetunion besetzt und gehört seitdem zur Ukraine. Dort in Lemberg – oder Lwiw, wie der ukrainische Name heißt – wird bei der EM übrigens zum ersten Mal die Deutsche Nationalmannschaft spielen, morgen Abend gegen Portugal.

Wie gesagt, mein Interesse am Fußball ist mäßig. Aber diese Europameisterschaft finde ich bemerkenswert: Dass wir ein paar Jahrzehnte nach dieser blutigen Zeit voller Kriege und Vertreibung, millionenfacher Morde und tiefstem Unrecht in diesen Ländern zu Gast sein können, das begeistert mich mehr als alle Tore. Zeigt es doch, dass Frieden möglich ist und dass aus verbitterter Feindschaft Versöhnung wachsen kann.