Aus dem Gefängnis: Eine Vision für die Kirchen
Es gibt Situationen, die Menschen an ihre Grenzen führen und über ihre Grenzen hinaus. So war das gewiss auch im Winter 1944 auf 45. In zwei benachbarten Zellen im Zuchthaus Berlin-Tegel sitzen mit gefesselten Händen Helmuth James Graf von Moltke und Alfred Delp. Der eine: überzeugter evangelischer Christ, der andere: katholischer Jesuitenpater. Sie schreiben sich Kassiber, also heimliche Nachrichten, (oder: Sie schreiben sich heimlich Nachrichten). um in dieser aussichtslosen Lage mutig und gelassen zu bleiben. Wenige Tage, nachdem beide zum Tod verurteilt wurden, schreibt Moltke seinem Freund und Zellennachbarn: "Wir müssen im Glauben sicheren, festen, freudigen Schrittes unsere Bahn gehen, auch wenn wir den Weg nicht sehen."
Während der ganzen Zeit im Gefängnis, verhört und misshandelt, beschäftigen sich die beiden Männer nur am Rande mit sich selbst. Sie denken nach und tauschen sich aus über die Zukunft ihres Landes und über die Zukunft ihrer Kirchen. Alfred Delp schreibt: "Der Weg der fordernden Kirche im Namen des fordernden Gottes ist kein Weg mehr zu den Menschen." Und: "Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben."
Die beiden sind zuversichtlich, dass Ihr Weg nicht umsonst ist, der Weg des Widerstands gegen ein verbrecherisches System, aber auch die tiefe Freundschaft über Konfessionsgrenzen hinweg. Alfred Delp schreibt: "Ich will mich mühen, wenigstens als fruchtbares und gesundes Saatkorn in die Erde zu fallen. Irgendwann wird die Saat Frucht tragen."
Hat sich dieser Wunsch, diese Hoffnung erfüllt? Ich habe darüber mit Fritz Delp gesprochen. Er ist der Neffe von Alfred Delp und evangelischer Pfarrer. Er sagt: "Mein Onkel hatte die Vision, dass die Kirchen nicht warten, bis die Menschen zu ihnen kommen. Es ist ihr Auftrag, allen entgegen zu gehen, die Not leiden und Hilfe brauchen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Vor allem müssen die Kirchen endlich über ihren Schatten springen und sich aufeinander zu bewegen. Für Alfred Delp jedenfalls war das Gemeinsame stärker als das, was trennt."
Am 20. Juli 1944, heute vor 68 Jahren, scheiterte das Attentat auf Adolf Hitler. Danach wurde Alfred Delp verhaftet und im Februar 1945 in Plötzensee gehängt. Der Samen ist in die Erde gefallen. Die Frucht steht noch aus.