Alles Essig
„Frühschicht“ nennen wir die Meditation um 6 Uhr morgens in der dunklen Kirche. Jetzt ist Passionszeit. Vorbereitungszeit auf Ostern. Die Frage ist, was das mit mir zu tun haben könnte. Menschen, die diese Frage in sich haben, probieren zum Beispiel eine Frühschicht als Gottesdienstform aus. Man sieht die Hand vor Augen kaum. Nur eine einzige mickrige Kerze flackert. Eine Decke soll jeder mitbringen und sich irgendwo in der Kirche hinlegen. Die rein kommen, machen´s ganz vorsichtig, dass sie nirgends dran stoßen. Schon eine besondere Kirchenerfahrung. Einige trauen sich in den Altarraum, manche legen sich lieber auf eine Bank. Passionszeit, Leidensweg von Jesus. Das bedenken wir in dieser Frühschicht. Vorsichtig teile ich an jeden Menschen in der Kirche einen kleinen Essigschwamm aus. Es riecht ziemlich streng. Warum Essig? Als Jesus am Kreuz hängt und langsam schmerzhaft stirbt, ruft er in der Hitze des Tages nach Wasser. Und er bekommt etwas gereicht: Essig. Nichts zu trinken, aber Essig. Auf einem Schwamm an die Lippen gepresst. Darüber denken wir in dieser Frühmeditation nach. Ich stelle mir vor: Wenn ich persönlich etwas wirklich erwarte, ersehne, was ich wirklich brauche, so wie ein Verdurstender das Wasser – und dann gibt mir jemand nur Essig. Selbst so ein letzter Wunsch wird dem sterbenden Jesus nicht erfüllt. Der Ruf nach Wasser und die Antwort ist der Essigschwamm ins Gesicht. Ich frage mich bei dieser Geschichte: Was ist mit unseren wichtigen Erwartungen, Hoffnungen, Träumen? Wenn sie zusammenbrechen und wir auch nur „Essig“ bekommen. Alles Essig. Alles aus. Sind wir vielleicht auch bei denen, die anderen Essig einschenken, wo sie Wasser bräuchten? Wo wir Menschen das Wichtige, das Sinnvolle vorenthalten und ihnen etwas Schlechtes im Tausch dafür reindrücken? Menschen bei uns haben den Wunsch nach Anerkennung, nach Lob, nach einem Lächeln, nach Annahme. Wie gehe ich damit um? Ich möchte diese Passionszeit zum Nachdenken benutzen, wo ich anderen gut tue – oder auch nicht. Wo ich Menschen um mich die Hölle heiß mache – oder den Himmel ein Stückchen erde. Mitnehmen als Andenken möchte keiner den kleinen Essigschwamm. Nee, danke. Sie haben´s verstanden – auch ohne ein Souvenir. Da, wo einer dürstet, nach Annerkennung, Sinn, Gemeinschaft, Leben, da will ich versuchen, den Durst zu stillen, so gut ich es kann.