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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer im Ruhestand, Biebertal

Wer will schon ein Träumer sein

Wer will schon ein Träumer sein

Manchmal kann ich im Traum fliegen. Und trotz meines Gewichts geht das ganz leicht und macht überhaupt keine Mühe. Im Traum fliege ich nicht wie eine Gans, die nur mit großer Kraftanstrengung abhebt und viel Wind machen muss, um in der Luft zu bleiben. Ich fliege eher wie ein Turmfalke. Oder wie ein Mauersegler, der mühelos seine Kreise zieht und sich vom Wind tragen lässt. Ein wunderbares Gefühl: schwerelos, irgendwie über allen Dingen schweben. Schade, dass es vorbei ist, sobald ich aufwache. Und auch wenn ich wieder einschlafe und gerne weiterfliegen möchte, es ist und bleibt vorbei.

Wahrscheinlich muss das so sein. Träume gehören in die Nacht und in den Schlaf. Träume sind Schäume, heißt es landläufig. In wachem Zustand zerplatzen sie wie Seifenblasen. Und wer im wirklichen Leben träumt oder tagsüber seinen Träumen nachhängt, gilt nicht gerade als lebenstüchtig. So schön das Träumen sein kann, ein Träumer zu sein, ist nicht unbedingt ein Kompliment.

Wer sich jedoch gründlich mit dem Träumen beschäftigt, wie Professor Schredl, Leiter eines wissenschaftlichen Schlaflabors, kommt zu anderen Einsichten. Er sagt: "Die Person, die träumt, ist ja dieselbe, die im Wachzustand handelt. Es ist das gleiche Gehirn, es sind die gleichen Erinnerungen, die gleichen Gedanken, es ist die gleiche Welt." Sie haben etwas mit dem Leben zu tun, meine Träume. Weisen hin auf Sehnsüchte, die ich tagsüber verdränge. Vielleicht auch auf Kräfte und Fähigkeiten, die in mir schlummern. Oder machen mich aufmerksam auf einen Schatz, den ich noch nicht ausgegraben habe.

Wenn die Propheten der Bibel den Menschen eine wichtige Botschaft von Gott ausrichten wollten, dann hatten sie selbst diese Botschaft im Traum erfahren. Dafür, dass eine Botschaft wichtig war, dafür gab es keine verlässlichere Quelle als den Traum.

Und was heißt das für meinen Traum vom Fliegen? Es wird ein Traum bleiben. Aber vielleicht kann ich mir etwas von der Gelassenheit, der Ruhe, der Übersicht mitnehmen in den Tag. Nicht fliegen, aber manchmal doch über den Dingen stehen. Und nicht nur auf die eigenen kräftigen und hektischen Flügelschläge vertrauen, sondern sich vom Aufwind tragen lassen.