hr1 ZUSPRUCH
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Kristen, Dr. Peter

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt

Getragen sein

Getragen sein

Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, kann ich durch ein Fenster auf unser Kirchendach schauen. In einer schiefergedeckten Gaube wohnt dort seit einigen Jahren eine Turmfalkenfamilie. Einige Junge sind dort schon geschlüpft. Sie sehen niedlich aus mit den plustrigen Federn und dem kleinen, gebogenen Greifvogelschnabel. Ihr erster Flug runter vom Kirchendach ist immer besonders spannend.

Vor ein paar Tagen habe ich das miterlebt: Die Mutter sitzt auf dem Dach der Gaube und das Junge schaut sich die Sache zuerst einmal vorsichtig an. Erst steckt es den Kopf mit den großen Augen aus dem Einflugloch heraus, dann tritt es vorsichtig auf das Dach hinaus. Ein kleines Schrittchen zu viel, da rutscht es die Ziegel hinunter und bleibt an der Dachrinne hängen.

Scheinbar verzweifelt dreht es sich um und versucht die steilen Ziegel wieder hinauf zu klettern, vergeblich. An der Dachrinne bleibt es sitzen. Eine ganze Weile. Zehn Meter unter sich die Wiese.

Hinauf kann es nicht mehr. Der Weg in die Freiheit, ins Leben, verlangt einen entscheidenden Schritt ins Ungewisse. Was da vor ihm liegt, hat es noch nie erlebt. Wird die Luft es tragen, werden seine Flügel ihren Dienst tun?

Ich hatte noch gar nicht damit gerechnet, da geschieht es: Ein kleiner Hüpfer, zwei Meter Sinkflug und dann breitet der junge Turmfalke ohne Flugerfahrung seine rotbraunen Flügel aus und fliegt in einer großen, eleganten Kurve um die Kirche herum in die Freiheit. Seit dem hab ich ihn nicht mehr gesehen.

Mag sein, dass der kleine Falke seinen ersten Flug nur aus Instinkt gewagt hat. Er ist ja ein Tier und hatte einfach keine andere Wahl.

Dennoch: Ich beneide ihn um das, was er erlebt hat: Einen Schritt wagen, erleben, dass ich mehr kann, spüren, dass ich getragen bin und frei.

Als Christ glaube ich, dass wir Menschen zur Freiheit berufen sind. Wir können etwas wagen, auch weil wir gewiss sind, getragen zu sein nicht nur von dem, was wir selbst leisten können.

Von allem Anfang an, schon im Mutterleib, wie es in einem Psalm heißt, sind wir getragen durch alles auf und ab im Leben und sogar darüber hinaus.

So wie der kleine Turmfalke möchte ich das auch spüren.