Ein Brief macht Lust auf mehr
Lena hat einen Brief bekommen. Keine E-Mail, keine Nachricht im ICQ, keine Freundschaftanfrage auf facebook. Einen richtigen, altmodischen Brief, mit der Hand auf Papier geschrieben. Für eine Sechzehnjährige von heute ist das wirklich etwas Besonderes.
Auf der Rückseite steht, wer ihr den Brief geschickt hat: ihre ehemals beste Freundin aus Kindergartentagen, Marie. Die ist dann später auf eine andere Schule gegangen, die beiden haben sich aus den Augen verloren. Und jetzt hatte Marie beim Aufräumen eine alte Urlaubspostkarte von Lena gefunden und gedacht, sie meldet sich einfach mal.
Jetzt ist Lena an der Reihe. Eine E-Mail-Adresse ist angegeben. „Du kannst mich auch bei facebook suchen“, schreibt Marie.
Lena überlegt: Vielleicht lieber anrufen: „Hi Marie, ich bin’s, Lena, danke für deinen Brief…“ Nein, das hat sie sich nicht getraut.
Also schreibt Lena einen Brief zurück. Sie muss sich richtig Mühe geben. Immer wieder streicht sie etwas durch und schreibt es neu. Schließlich steckt sie die letzte, ganz neu abgeschriebene Version in einen Umschlag und fragt ihre Mutter nach einer Briefmarke.
Ich denke mir: Wenn Lena und Marie wieder so vertraut miteinander werden wollten wie in ihren Kindergartentagen, dann wird ihnen selbst ein Brief bald nicht mehr genügen.
Den Unterscheid zwischen etwas Geschriebenem und einer richtigen, leibhaftigen Begegnung hat auch schon ein Briefschreiber aus der Bibel bemerkt. Am Ende seines Briefes schreibt er: „Ich hätte dir viel zu schreiben; aber ich wollte nicht mit Tinte und Feder an dich schreiben. Ich hoffe aber, dich bald zu sehen; dann wollen wir mündlich miteinander reden.“ (3. Joh 13)
Erst wenn sie miteinander reden, werden auch Lena und Marie herausfinden, ob sie sich noch riechen können und in die Augen schauen, wie damals im Kindergarten. Sie werden sich treffen, darüber staunen, wie sie sich verändert haben, werden sich alte Geschichten erzählen und sich drüber halb totlachen. Es sind ja noch ein paar Tage Ferien, wer weiß?