Die Starken können ohne die Schwachen nicht sein
Ich habe lange mit der Mutter gesprochen. Sie hat nach zwei gesunden Kindern ein behindertes Kind zur Welt gebracht und es gemeinsam mit der ganzen Familie groß gezogen. Sie erzählt von dem tiefen Schock, als sich schon vor der Geburt herausstellte, mit welchen Schädigungen das Kind zur Welt kommen würde. Sie erzählt von den Abenden, die sie mit ihrem Mann verbracht hat – und mit vielen Fragen: Wie schaffen wir das? Sie erzählt von den Abenden mit Tränen und Umarmungen, mit Angst und mit Zuversicht.
"Und dann", sagt sie, "dann war alles ganz anders. Sicher, wir konnten ihn nicht allein lassen. Wir haben viel Zeit für ihn haben müssen. Und haben manchmal gestöhnt, wenn uns die vielen Kleinigkeiten, die zu erledigen waren, über den Kopf zu wachsen schienen. Aber er ist nicht unser Sorgenkind! Sorgenkind. Wenn ich das schon höre! Wie oft haben wir mit ihm gelacht. Wie oft uns an den kleinen Schritten gefreut, mit denen seine Entwicklung voranging. Sicher, er hat uns gebraucht. Mehr als die anderen beiden. Aber wir haben ihn auch gebraucht. Wir haben nicht nur gegeben. Wir haben auch genommen. Von seiner Freude am Leben. Von seinem unerschütterlichen Vertrauen, dass es alle Welt gut mit ihm meint."
Ich habe lange mit der Mutter gesprochen, die ein behindertes Kind groß gezogen hat. Sie macht nicht den Eindruck, dass diese Last sie zu Boden gedrückt hat. Im Gegenteil: Sie strahlt. Dieses Kind gehört – wie die anderen, aber auf besondere Weise – zu den Highlights ihres Lebens.
Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt: "Jede christliche Gemeinschaft muss wissen, dass nicht nur die Schwachen die Starken brauchen, sondern dass auch die Starken nicht ohne die Schwachen sein können."
Ich bin überzeugt: das gilt auch für jede Familie. Wo eben nicht nur die etwas gelten, die verdienen. Verantworten. Entscheiden. Sondern auch diejenigen, die klein sind und trinken und schreien. Oder alt und unbeweglich und angewiesen auf jede helfende Hand.
Ich bin überzeugt: Das gilt auch für unsere Gesellschaft überhaupt. Wo wir uns nicht verabschieden dürfen aus der Verantwortung der Starken für die Schwachen. Weil auch die Starken viel davon haben. Menschen, die viel geben, ob Geld oder guten Rat oder praktische Hilfen, Mensche, die viel geben, die bestätigen täglich, wie sehr sie dabei für sich selbst gewinnen.