Achtsamkeit - ein Modebegriff mit Nebenwirkungen
1 Mehr Achtsamkeit wäre echt schön
Wenn ich jetzt im Herbst mit meinem Hund spazieren gehe, bleibe ich manchmal für einen Moment stehen und halte inne: Die Bäume mit ihrem rot und golden leuchtenden Laub. Das Rascheln der Blätter auf dem Weg. Eine Esskastanie in ihrer stacheligen Hülle. Momente zum Staunen.
Das sollte ich viel öfter tun, einfach mal stehen bleiben, auf den Moment achten, ihn wahrnehmen, denke ich dann. Das Modewort dafür heißt „Achtsamkeit“. Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein. Mit den Gedanken wirklich im Augenblick zu sein und nicht schon überlegen, was man auf dem Heimweg noch alles einkaufen muss. Denn das ist für viele heute doch der Normalzustand, bei mir auch. Der ganze Tag ist durchgetaktet. Der Kaffee to go unterwegs, etwas essen. Auf dem Spielplatz mit den Kindern sein und dabei Mails checken. So verbringen viele zwar ihre Zeit damit, etwas eigentlich Sinnvolles zu tun. Aber in Wirklichkeit können sie es nicht genießen, weil man in Gedanken immer schon bei etwas anderem ist.
Das kostet nicht nur Kraft, es führt auch dazu, dass sich immer mehr Menschen permanent gestresst fühlen. In der Folge sind manche dann tagsüber todmüde und nachts in Gedanken bei der Arbeit, statt auszuruhen.
Achtsamkeit trifft deshalb bei vielen einen Nerv. Wem würde es nicht gut tun, einmal innezuhalten: Ganz bewusst zu essen zum Beispiel. Die Speise ansehen, ihren Duft aufnehmen, langsam zu kauen und genau zu schmecken, was man isst. Oder die Kinder wirklich zu beobachten in ihrem Spiel, wie sie sich bewegen, wo sie zögern oder die Initiative ergreifen. Es sind diese kostbaren kleinen Augenblicke, für die ich mir, wie viele andere, im Alltag oft keine Zeit nehme.
Das ist noch längst nicht alles, was Achtsamkeit heute verspricht. Es gibt Kurse in Achtsamkeit für gestresste Manager. Wer eine psychische Erkrankung hat, soll mit Achtsamkeit lernen, besser Gefühle wahrzunehmen. Und Kinder sollen durch Achtsamkeitstrainings besser den Schullalltag meistern. Es gibt hunderte von Coaches und Anleitern für Achtsamkeitskurse. Ich habe mich gefragt, woher diese neue Kultur eigentlich kommt und habe selbst einen Einsteigerkurs in Achtsamkeit besucht. Können wirklich alle Probleme von gestressten Menschen damit gelöst werden?
2 Der Kurs
Ich hab‘ also einen Einsteigerkurs in Achtsamkeit besucht. Acht Erwachsene liegen in einem Raum, der nur indirekt beleuchtet ist, jeder hat eine Matte, ein Kissen und eine Decke. Dann lenkt die Anleiterin unsere Aufmerksamkeit zu den Füßen, den Fußzehen, wir sollen in Gedanken ganz bei den Zehen sein, sie spüren. Dann sind die Fersen dran. Wir sollen spüren, wie sie auf dem Boden liegen, dass sie festen Halt haben. So geht die Reise durch den ganzen Körper. Mehr als eine halbe Stunde dauert das. Der Fachbegriff dafür ist Body-Scan, er meint achtsame Körperwahrnehmung einüben.
In meinem Kurs war das erstmal genug für den ersten Abend. Am Schluss gab’s noch ruhige Meditationsmusik. Wir hören Meeresrauschen und Vogelgezwitscher. Danach erzählt man von seinen Erfahrungen.
Ich hatte Mühe, die Gedanken zu konzentrieren und war damit nicht allein. Die Kursleiterin meint: Das ist völlig normal, dass man sich nicht gleich wohl fühlt im Augenblick, man muss die Achtsamkeit eben trainieren.
Die Achtsamkeit entstammt der buddhistischen Lehre, die schon mehr als 2500 Jahren alt ist. Ein Kernstück im Buddhismus ist die Meditation. Und die Achtsamkeit gilt als wichtige Voraussetzung für das Meditieren. Um richtig meditieren zu können, muss man auf alles achten, was man wahrnimmt, denkt und fühlt. Eine klassische Übung ist darum, sich allein auf den Atem zu konzentrieren, ganz ruhig zu spüren, wie der Atem kommt und geht. So sollen auch die Dinge, die einen beschäftigen oder belasten, auch das, was einen vielleicht stört, kommen und gehen dürfen.
Viele denken heute, Meditation diene der Entspannung. Aber im ursprünglichen buddhistischen Konzept der Achtsamkeit geht’s nicht um Entspannendes. Buddhas Überzeugung war: Es gibt Leiden auf der Welt: Schmerz, Ungerechtigkeit, Gewalt und Grausamkeit. Wer seine Leidenschaften besiegt, wird kein Leid mehr verursachen. Das Ziel im Buddhismus ist, die eigenen Gefühle und Gedanken zulassen, annehmen und wieder loslassen. Das soll letztlich die Freiheit von Gefühlen und Antrieben bewirken. Leid und Schmerz sollen so ihre Macht über einen verlieren. Und dann verursacht man auch kein Leid mehr, so die Lehre Buddhas.
Das ist ein anderer Umgang mit dem Thema Leid als im christlichen Glauben. Krankheit und Schmerz gehören für mich als Christin zum Leben dazu, sie sind nichts Fremdes und auch keine Strafe.
Die Meditation ist im Buddhismus ein religiöser Weg, der ein Leben lang eingeübt und angewendet werden soll. Zumeist war er Mönchen vorbehalten und eben nicht eine Übung für das alltägliche Leben. Das ist vielen nicht klar, die Achtsamkeits-Trainings zur Stressbewältigung buchen.
Den Schritt von der buddhistischen Glaubenslehre in die moderne Heilkunst hat erst Ende der siebziger Jahre der amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn getan. Kabat-Zinn war Zen-Buddhist und entwickelte daraus das medizinische Achtsamkeitstraining, also Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Zu seinem Programm gehören Elemente der buddhistischen Meditation. Gleichzeitig betonte Kabat-Zinn aber, dass es sich nach seiner Methode nicht um eine Glaubenslehre handle, sondern um eine Technik. Sie ist wertvoll für viele Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Ich finde es stimmt: man muss nicht Buddhistin sein, um Achtsamkeit zu erlernen.
3 Achtsamkeit verbindet
Auch Jesus rät zu Achtsamkeit im Alltag. Jesus leitet seine Jünger immer wieder dazu an, die Schönheit wahrzunehmen. Er sagt: „Seht die Lilien auf dem Felde!“(Matthäus 6,28). Also genau das, was ich jetzt im Herbst jeden Tag bei meinem Hundespaziergang erlebe, wenn ich mich an der Schönheit der Bäume freue.
Gleichzeitig schärft Jesus die Wahrnehmung von Leid. Wenn jemand in Not ist, soll man nicht achtlos an ihm vorüber gehen, sondern helfen, so gut man kann (Lukas 10, 25-37). Auch das tun zurzeit viele hier, wenn sie zum Beispiel Flüchtlingen helfen.
Und wenn Christen beten, ist das auch eine Stilleübung, die Gedanken und Herz beruhigen kann. Achtsamkeit lenkt die Aufmerksamkeit auf den Augenblick. Beides bekommt Raum: Sorgen und Ängste wie Freude und Glück.
Gerade deshalb find ich es schade, wenn Achtsamkeitstraining manchmal nicht mehr ist als ein neues Geschäftsmodell. Ein Kursanbieter wirbt bei Unternehmenschefs mit dem Argument: Durch Achtsamsamkeitstraining werden Mitarbeiter und Führungskräfte widerstandskräftiger. Wörtlich heißt es: Dieses Training hilft, „in den turbulenten Märkten von Morgen zu bestehen“. Google macht so was schon. Der Konzern bezahlt ein firmeninternes Achtsamkeitstraining. Auch deutsche Firmen buchen solche Kurse. Denn in Deutschland gibt es immer mehr Krankentage wegen seelischer Belastungen. Mitarbeiter wie Führungskräfte sind häufig erschöpft, das verursacht hohe Kosten: Achtsamkeit als Kostensenker.
Ich sehe das kritisch. Diese Erschöpfungszustände sind ja auch eine Folge der Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt: Überall ist der Arbeitsdruck gestiegen. Familien, Freundeskreise oder Vereine sind bruchiger geworden. Viele Leute versuchen darum alles, um den Anforderungen gerecht zu werden.
Ich meine: Wenn die Arbeit krank macht, muss man auch die Arbeitsbedingungen anschauen und verändern, nicht nur sich selbst immer mehr anpassen. Achtsamkeits-Training kann nicht alles sein.
In der Schöpfungsgeschichte der Bibel macht übrigens Gott selbst vor, wie Achtsamkeit in der Arbeitswelt anders und gut funktioniert (1. Mose 1). Gott erledigt ein ungeheures Arbeitspensum: die ganze Welt in nur sechs Tagen erschaffen! Aber Gott sorgt für sich. Jeden Tag, am Feierabend sozusagen, hält Gott inne. „Und Gott sah, dass es gut war“, heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Und am Ende, da macht er einen ganzen Tag Pause, um die Schönheit und Vollkommenheit der Welt wahrzunehmen: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“
Achtsamkeit so verstanden ist ein offener Blick für sich selbst und andere und für die Schönheit der Natur. Und wenn Achtsamkeit dann dazu führt, dass ich barmherzig bin mit mir und anderen, dann ist es richtig gut. Aufmerksam leben, die Natur wertschätzen, sich selbst stärken und anderen beistehen – so hat Achtsamkeit ihren Sinn.