Einatmen, ausatmen, beten – für mich und andere
I
„Sie beten echt jeden Morgen eine Stunde?“ fragt mich eine Frau mitten im Supermarkt. Wir stehen uns mit unseren Einkaufswagen gegenüber. Sie fragt: „Kann man da mit beten?“ Ich stutze. Sie hatte das in der Zeitung unserer Kirchengemeinde gelesen und fragt jetzt: „Echt eine Stunde jeden Tag? Beten?“ „Ja,“ sage ich, „jeden Morgen eine Stunde!“ Dann erzähle ich's ihr. Neben dem Kühlregal mit dem Joghurt. Noch zwei Frauen kommen dazu und hören interessiert zu. Ein Gespräch über Gott und das Beten an einem ungewöhnlichen Ort. „Und wann? Und wie?“ fragen sie.
Die Sache mit dem morgendlichen Beten habe ich in Indien kennengelernt. Ich war für einen längeren Studienurlaub dort an einem Institut für interreligiösen Dialog. Ich war neugierig auf die religiösen Erfahrungen dort. Und lernte das Meditieren am frühen Morgen bei Freunden kennen. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang. Für Hindus eine Tradition. Ich gewöhnte mich an das frühe Aufstehen. Zuerst sah ich meinen indischen Freunden zu bei ihren Ritualen. Sie beten mit einer langen hölzernen Gebetskette und Lichtern, zum Duft von Blumen und Räucherstäbchen. Am Anfang fiel es mir schwer, gedanklich bei der Sache zu bleiben. Ob das so früh sein muss, wofür soll das gut sein? Mein Gebet war meistens kurz und ich war schnell fertig. Dann schaute ich den Meditierenden zu. Ich sah, wie sich ihre Lippen schnell bewegten und ihre Finger die Gebetsperlenkette voran gleiten ließen. Nach vielen morgendlichen Meditationen, still auf dem Boden sitzend, fielen mir schließlich wie von alleine lieb gehütete Texte meines christlichen Glaubens ein. Zuerst Psalmworte. Nicht ganze Psalmen, aber einzelne Verse. Ich begann die Psalmworte im Rhythmus meines Atmens zu meditieren. Ich atmete den schweren Duft der Räucherstäbchen ein. Manchmal musste ich den Husten unterdrücken, aber nach einer Weile ging´s. Zuerst atmete ich tief aus, schloss die Augen und spürte einem Psalmwort in meinem Herzen nach. Manchmal war da zuerst Leere. Nur mein Atmen, langsamer werdend. Je länger ich in mich hinein atmete, bewusst ausatmete, kamen mir Worte in den Sinn, die ich im Atemrhythmus meditierte. Wie: „Der HERR ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hofft mein Herz und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied.“ (Psalm 28.7). Mit dem langsamen Aus- und Einatmen bewegten sich die Worte dieses Psalms durch meinen Kopf und mein Herz. Bei jedem Atemzug veränderte ich ein wenig die Betonung, mal auf das Wort „Herz“ oder auf das Wort „Stärke“ und „Schild“. Oder auf die Verben wie „danken“ und „hoffen“. Nach einer Weile lief das Psalmwort einfach so an meinem Atmen entlang. Es kam, floss, strömte einfach so durch mich hindurch. Ich vergaß dann das lange Sitzen, meine Beine, die ich nicht richtig ausstrecken konnte, die anderen Meditierenden neben mir. Das Beten war schön und einfach. Nach so einer Einstimmung betete ich weiter. Warf Namen von lieben Menschen gedanklich in den Himmel. Eine kleine kurze Fürbitte, die Gott Namen sagt, die mir wichtig sind. Wer viele Freunde hat und Menschen, die er schätzt, braucht schon lange. Beim Ausatmen verweilte ich länger bei manchen Namen. Es ging alles ganz einfach, wie von selbst. Ich glaube nicht, dass Gott großartig viele Worte braucht.
Ab und zu war ich am Ende meines Betens tatsächlich alleine im Raum. Ich hatte nicht gemerkt, dass meine Freunde fertig waren und leise gegangen waren. Wir wollten dich nicht stören bei deinem Beten, sagten sie später. Du warst tief dabei. Als ich aus Indien zurückkam, war mir das morgendliche Beten zur Gewohnheit geworden. Auch ohne Wecker wachte ich kurz vor Sonnenaufgang auf. Bereit zum Beten, zum Meditieren. Und jetzt fragt mich die Frau mit dem Einkaufswagen: Kann man da mit beten?
II
„Kann man da mal mit beten?“ hatte die Frau mit dem Einkaufswagen gefragt. Ich biete ihr die Gebete morgens früh in der Laurentiuskirche bei uns in Arnoldshain an, Frühschichten nennen wir sie. Einige Male um 6 Uhr morgens jetzt in der Passionszeit bis Ostern. „Eine Stunde?“ fragt sie. Ja, diese Stunde des Betens am Morgen ist mir wichtig geworden. Eine Stunde für mich. Für mich mit Gott. Für Gott mit mir.
Es geht sicher auch anders. Da, wo ich lebe, ist die Kirche nebenan. Da höre ich die Glocken läuten um 11 und um 19 Uhr. Ich habe mir angewöhnt, auch dann zu beten. Es geht nicht immer. Wenn ich gerade telefoniere, lege ich nicht schnell auf. Ich hab´s auch schon vergessen. Aber auch diese Gebetszeiten sind mir heilig und wichtig geworden. Andere Menschen werden das für sich ganz anders entscheiden. Aber ich brauche diese Zeit mit Gott. Für mich ist es Auftanken, Abschalten von dem, was vornehmlich wichtig scheint, Rückbezug auf das, was wirklich wichtig ist. Gerade die Fürbitte für andere ist mir wichtig geworden, und auch dazu habe ich von den Freunden in Indien den Anstoß bekommen.
III
Nachdem ich in Indien einige Wochen an der morgendlichen Meditation vorm Sonnenaufgang teilgenommen hatte, sagten mir meine indischen Freunde. „Wir wollen für dich beten. Und zwar 125.000 Mal.“ Zuerst dachte ich, ich hätte mich bei der Zahl verhört, so toll ist mein Hindi noch nicht. Und sie erzählten, dass sie fünf Betende bräuchten und eine Woche lang jeweils vier Stunden für mich beten würden. Dass sei ihnen wichtig. Ich soll das wissen. Ich bedankte mich und war erstaunt. Dass überhaupt jemand für einen betet, ist ein wunderschönes Gefühl. Und dann so oft? Ich sagte einfach „danke“. Als das dann stattfand, war ich schon gerührt. Es war ein weiterer Anstoß, die Fürbitte auch für mich neu zu entdecken. Mal von mir absehen und für die Menschen um mich herum bitten. Das ist mir wichtig geworden. Nicht als eine Pflichtübung, sondern als ein Herzensbedürfnis. Jeden Morgen meditiere ich Namen von Menschen, die ich kenne. Nicht alle davon mag ich, mit manchen habe ich Schwierigkeiten. Und trotzdem nehme ich sie, wie meine Freunde, mit ihrem Namen ins Gebet. Später hab ich mir ein Herz gefasst und auch dem Einen oder der Anderen gesagt: „Ich habe für dich gebetet!“ Manche haben dann gelächelt oder ungläubig gestaunt. Aber fanden es irgendwie auch schön. Ich jedenfalls freue mich beim Aufwachen auf meine Auszeit mit Gott. Morgen früh werde ich für die Frau mit dem Einkaufswagen beten.