hr1 SONNTAGSGEDANKEN
hr1
Meier, Johannes

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel

Purim-Fest

Purim-Fest

Die Lesung aus der Heiligen Schrift – eigentlich ist sie der ehrfürchtige Höhepunkt des Gottesdienstes. Doch heute ist alles anders, heute sitzen jede Menge junge Störenfriede in den Bankreihen. Tröten, Rasseln und Ratschen haben sie mitgebracht – und kaum hat der Lektor mit der Bibellesung begonnen, legen sie auch schon los: Es wird getrötet, gerasselt und geratscht, was das Zeug hält, man versteht ja kein Wort mehr! Immer wieder muss der Vorleser innehalten und den größten Lärm abwarten, bevor er endlich weiter die Worte der Bibel sprechen lassen kann. Aber kaum hat er ein paar Sätze gelesen, geht der Lärm von vorne los. Was soll das ganze? Wollen hier ein etwa paar aufmüpfige Jugendliche den Gottesdienst sprengen? Wieso unternimmt denn der Pfarrer nichts? – Nun, einen Pfarrer gibt´s hier gar nicht, denn diese verstörende Szenerie spielt sich nicht in einer christlichen Kirche, sondern in einer Synagoge ab. Aha, sagen sie, aber macht´s das besser? Was erlauben sich diese Leute, einen jüdischen Gottesdienst zu stören!

Wer heute – zum Beispiel um 11 oder 16.30 Uhr in den Frankfurter Synagogen – zum ersten Mal einen Purim-Gottesdienst besucht, der könnte genau so etwas erleben. Und nach dem ersten Schreck ob des ungewöhnlichen Gerassels würde schnell klar: Niemand ist hier verärgert, nicht einmal der Rabbi, der höllische Lärm ist vielmehr Ausdruck himmlischer Freude! Hoch her geht es heute in den Synagogen, denn mit Purim feiern die Juden ein ausgelassenes Fest, das in seinem Brauchtum etwa wie eine Mischung aus Weihnachten und Karneval daherkommt: Es gibt Geschenke und ein üppiges Festessen, außerdem haben sich viele grellbunt verkleidet. Und wie beim christlichen Weihnachtsfest steht auch beim jüdischen Purim-Fest eine Geschichte im Mittelpunkt. Hirten und Engel kommen darin allerdings nicht vor, auch nicht Maria und Josef und Jesus sowieso nicht. Stattdessen spielen eine zur Königin erwählte Haremsdame und ein mieser Finsterling die gegensätzlichen Hauptrollen in einem Politthriller voller Verwicklungen und überraschender Wendepunkte. Nachzulesen tatsächlich in der Bibel. Dort findet sich im Alten Testament die hierzulande weitgehend unbekannte Geschichte von der schönen Esther und ihrem bösen Widersacher Haman. Genau jetzt würde in der Synagoge übrigens wieder heftig getrötet und geratscht. Das passiert immer dann, wenn dieser Name fällt. Der Schurke Haman wird auf diese Weise lächerlich gemacht, sein Name soll mit dem Lärm sozusagen ausgelöscht werden. Kein Wunder, schließlich wollte Haman einst auch alle Juden auslöschen.

Das Purim-Fest, das heute von Juden auf der ganzen Welt gefeiert wird, ist ein Fest des Überlebens und der Rettung. Purim, das bedeutet soviel wie Los – und erinnert an eine grausame Tombola, die im Buch Ester geschildert wird. In der christlichen Bibel findet sich Esthers Geschichte im Alten Testament: Per Losverfahren lies laut Überlieferung einst Haman, der Kanzler des persischen Königs, den Tag ermitteln, an dem alle Juden, die sich damals im persischen Exil aufhielten, ermordet werden sollten. Gekränkte Eitelkeit hatte Hamans Judenhass befeuert: In maßloser Selbstüberschätzung hatte er, der zweithöchste Mann in Persien, verlangt, dass alle vor ihm huldigend niederknien mögen. Doch ein jüdischer Untergebener am Hofe namens Mordechai verweigerte diesen Kniefall: Nur Gott allein gebühre solche Ehre! Daraufhin erwirkt Haman bei seinem König einen Erlass, der die Ausrottung aller Juden befiehlt.

Doch er hat die Rechnung ohne Esther gemacht, der schönen Lieblingsfrau des Königs. Sie wird zur titelgebenden Heldin der Geschichte, als sie ihrem Mann bei einem Festmahl ihre wahre Herkunft offenbart: Auch Esther ist nämlich Jüdin und obendrein Adoptivtochter des aufrechten Mordechai. Der König lässt sich von Esther erweichen, er erhört ihre Bitte um Gnade für das jüdische Volk und bestraft Haman. Er wird an eben dem Galgen erhängt, den er bereits für seinen Widersacher Mordechai hatte errichten lassen. Aber das Happy End bleibt unvollständig: Aus bürokratischen Gründen ist der königliche Erlass zur Judenvernichtung am ausgelosten Tage des 14. Adar, dem Termin des heutigen Purim-Festes, nun nicht mehr rücknehmbar. Doch Perserkönig Artaxerxes erlässt kurzerhand eine neue Anordnung: Diese erlaubt den Juden, sich gegen etwaige Angriffe zu verteidigen und um ihr Leben zu kämpfen. Sie sind also nicht länger schutzlos und vogelfrei ihren Gegnern ausgeliefert – und können so am Ende überleben.

Die Geschichte des Purim-Festes, das heute mit fröhlichen Gottesdiensten in den Synagogen, mit üppigen Mahlzeiten und bunter Maskerade von allen Juden gefeiert wird, ist keine Geschichte, wie man sie typischer Weise in der Bibel erwarten würde. Sie erscheint irgendwie allzu menschlich, voller Eitelkeit und Intrige, ja, auch voller Mord und Totschlag. Tatsächlich gab es immer mal wieder Streit um dieses Buch der Esther, manch ein Schriftgelehrter und Theologe hielt es nicht für bibeltauglich, hätte es lieber aus der biblischen Geschichtensammlung heraus genommen. Nicht ein einziges Mal etwa würde in dieser haarsträubenden Erzählung der Name Gottes vorkommen! – Bald jedoch machten jüdische Gelehrte eine interessante Entdeckung: Den Namen Gottes fanden sie zwischen den Zeilen verborgen, wie in einem Buchstaben-Code. Gott ist also bei all dem scheinbar schicksalhaften Geschehen durchaus immer mit von der Partie – wirkt aber unerkannt im Hintergrund, als trüge er selbst eine der faschingsartigen Purim-Masken.

Ich finde, das ist eine schöne Entdeckung. Sie passt auch zu meiner Lebenserfahrung, in der mir Gott oder sein Wirken keineswegs immer klar vor Augen steht. Ja, manchmal versteckt er sich wohl hinter Masken, zumeist begegnet er mir nicht höchstpersönlich, sondern in anderen Menschen. Die Purim-Geschichte erzählt von solchen Menschen: Von dem gläubigen Juden Mordechai, der aufstand gegen die selbstherrliche Unterdrückung, der Gott mehr gehorchte als menschlichen Machthabern. Und natürlich von Esther, jener mutigen Frau, die für das Wohlergehen anderer alles riskierte.

Der göttliche Mut dieser bibischen Helden wirkt ansteckend, an ihm hat sich nicht zuletzt das jüdische Volk immer wieder gestärkt und aufgerichtet. Wenn sich mit dem heutigen Purim-Fest auch die Eröffnung des ersten Konzentrationslagers in Dachau jährt, die am 20. März 1933 von Heinrich Himmler bekanntgegeben wurde, werden deshalb die Tröten und Rasseln in den jüdischen Gotteshäusern nicht verstummen. Im Gegenteil: Erst recht sollen sie Lärm machen! Sie sollen lärmen gegen die Mörder und für die Ermordeten. Sie sollen lärmend das Überleben feiern – und Mut machen zur Mitmenschlichkeit und zum aufrechten Gang.