hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Wildfang, Christoph

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Arnoldshain

Bloß keinen Küchenkram!

Bloß keinen Küchenkram!

Teil I

„Hier kann man essen, hier muss man nicht essen!“ Sagte meine Mutter immer, wenn ihr mal wieder das Mittagessen nicht so richtig gelang und wir vier Kinder zu Hause mäklige lange Gesichter machten. „Macht euch halt eine Tiefkühlpizza!“ Schwupp, ging sie an ihre Korrekturen als Deutsch- und Relilehrerin. Und schlief dabei manchmal im Sitzen am Schreibtisch ein für ein Nickerchen. Heute ist Muttertag. Mit einem Schmunzeln denke ich an meine Mutter, auch wenn ich sie schon vor vielen Jahren beerdigen musste. Der traditionelle Muttertag war ihr so eine Sache. Wehe, wir kämen mit einem Küchengerät daher. Da war sie allergisch gegen. „Das schmeiß ich euch vor die Füße!“ hatte sie schon vorher gedroht. Und doch hatte sie wohl, als wir klein waren, einige Jahre lang immer wieder Elektrogeräte für die Küche bekommen. Es war Muttertag und unsere Mutter bekam zuerst die Kartoffelschälmaschine, im nächsten Jahr die Maschine, mit der man Yoghurt machen könnte. Alles landete dann bei ihr im untersten Schrank im hintersten Winkel. „Das sind doch gar keine persönlichen Geschenke,“ sagte sie. „Lieber schreibt mir ein Gedicht oder malt ein Bild oder wir unternehmen was zusammen. Bloß nichts für die Küche. Dann könnt ihr mir ja gleich einen Putzeimer in Herzform schenken,“ lachte sie. Meine Mutter war vielleicht ein bisschen anders als das übliche Mutterbild in den 60ern und 70ern. Falls es da überhaupt ein einheitliches Bild gab. Klar, es war schon sauber und propper. Aber so eine Haushaltsikone wollte sie überhaupt nicht sein. Wenn´s bei uns mal leckeres Essen gab, dann hatte es mein Vater gekocht. Einmal Weihnachten, wollte unsere Mutter uns eine Weihnachtsgans braten. Wir Kinder hatten nach einem „richtigen“ Weihnachtsessen gedrängelt. Es ging schief. Im ganzen Haus roch es verbrannt. Kurzentschlossen schnappte sie sich den Gänsebräter und schmiss unsere Festgans mit allem Zubehör in den Müll. Damit war das Thema Festessen beendet. Schon früh lernten wir eben selber kochen oder etwas Essbares herstellen. Was aber zum Muttertag schenken? Teure Sachen wie Düfte oder gar größere Anschaffungen waren für uns als Kinder nicht finanzierbar. Was blieb, waren Jahr für Jahr kleine persönliche Geschenke. Ein Brief. Ein Bild. Später erkrankte meine Mutter schwer und ihre Kräfte nahmen langsam ab. Mein Vater erzählte, dass sie oft, je schwächer sie wurde, unsere uralten Briefchen und Bilder hervorholen ließ und sie las und mein Vater sie ihr später vorlas.

Teil II

Liebevolle Worte scheinen zu bleiben. So weiß ich auch noch genau, was meine Mutter zu mir sagte, bevor sie starb. Ich trage es tief in mir und es gibt mir bis heute Mut. Mit meinen Geschwistern gemeinsam habe ich dann die Beerdigung vorbereitet und gefeiert . Natürlich war es todtraurig, weil sie nicht alt werden konnte. Doch in der Vorbereitung haben wir viel gelacht. Wir vier Kinder saßen im Wohnzimmer und uns kamen zig lustige Geschichten über unsere Mutter. Eben wie die mit dem Gänsebräter im Ascheimer. „Und wehe einer lacht!“ Sagte sie, als sie wieder reinkam. Ich weiß, wir lachten nicht zu doll, sondern wunderten uns nur still und heimlich, was es jetzt wohl zu Weihnachten geben würde. Geschäfte zu, wie das eben früher so war – und unsere Festgans im Müll mit allem Zubehör. Heute am Muttertag denke ich gerne an meine Mutter. Perfekt war sie nicht. Vielleicht eine besondere Mutter. Was wohl jeder über seine Mutter sagen würde. Was bleibt, sind tausend wunderschöne herzliche Geschichten, die wir Kinder immer gerne wieder austauschen. Dann sitzen wir, wie damals zur Vorbereitung ihrer Beerdigung, im Wohnzimmer, lachen und scherzen über die ganzen Anekdoten unserer Mutter. Und plötzlich ist sie in Gedanken ganze nahe bei uns, als ob sie gleich wieder die Tür reinkäme. Als Mutter hat sie mit uns auch viele ihrer eigenen Lebensgeschichten geteilt. Das war wie Kino im Kopf. Ewig lange, für uns Kinder zu lange, hatten wir gar keinen Fernseher, nur unsere Mutter, die gerne erzählte. Weiß Gott, sie konnte echt gut erzählen. Am Strand der Nordsee, auf Amrum, um uns Kinder weiter voran zu treiben, wenn wir nicht mehr gehen wollten, weil der Wind viele kleine Sandkörner um unsere Füße peitschte. Dann erzählte und erzählte sie. Was sie las. Geschichten ihrer Kindheit aus den 30ern und 40ern. Wie sie sich als Studentin im Stahlwerk im Ruhrgebiet Geld verdiente, weil sie in die Kokskessel reinkriechen konnte, um sie zu putzen. „Kleine“ nannte man sie. So klein, dass sie auch als Studentin in dreckige Stahlkessel krabbeln konnte. Und damit ihr Studium verdiente. Vieles, was sie erzählte, erzählte sie ohne Bitterkeit, ohne Galle, oft mit einem Schuss Humor, auch wenn uns Kindern die Kinnlade nach unten sank. Als wir älter waren, sagte sie mal: „Am Strand habe ich euch so viel erzählt, dass ich einen Sonnenbrand im Mund bekam!“ Kann aber auch sein, dass das auch nur eine augenzwinkernde Geschichte von ihr war. Was von meiner Mutter bleibt, ist ein schönes Grab - und viele Geschichten. Es sind Geschichten vom Wieder-Aufstehen. Vom dauernden Neuanfang. Geschichten trotz Erfahrung des Krieges, Neuanfang in armen Verhältnissen, nie zu verzweifeln. Dass es mit einer Prise Lebensfreude und Glaubensmut weiter geht. In ihren Lebensgeschichten ging es auch manchmal um schlimme Erfahrungen, die wir als Kinder vielleicht nur einen Hauch erspüren konnten. Das Ende vom Krieg in einem Lazarett zum Beispiel, als die sowjetische Armee das Lazarett übernahm. Andeutungen. Der Bombenkrieg im Ruhrgebiet. Alles verloren, irgendwo mit vielen Leuten eingepfercht. „Erzähl weiter,“ sagten wir dann und uns erschienen die Geschichten abenteuerlich. Das glückliche Ende lief ja lebend neben uns. Als sie krank wurde, erzählten wir ihr. Ich denke an unendliche lange Nächte in der Uniklinik neben ihrem Bett. Wir sangen, beteten und erzählten. Später drang es vielleicht nicht mehr so sehr durch ihre Ohren, aber wir erzählten bis zum Schluss. Oft mit Tränen, aber tapfer weiter. „Sie hat mir viel gegeben,“ sagte ihr Krankenhausarzt bei der Beerdigung und erst da haben wir das stückweise verstanden.

Teil III

Muttertag heißt für mich, an das zu denken, was meine Mutter uns gegeben hat. Auf jeden Fall bleibt die Erzählgemeinschaft. Ich habe vieles vergessen, ihren Duft, ihre Stimme, manchmal auch ihr Aussehen. Ich weiß, ich kann auf Fotos schauen, ich kenne auch ihr Lieblingsparfum. Aber manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich nach über 20 Jahren noch alles wirklich genau weiß. Das macht mich auch ein bisschen traurig. Aber ihre Lebensgeschichten, ihr Erzählen bleibt mir im Ohr und im Herzen. Ein Mundwinkel, der nie für lange Zeit nach unten ging. Eine mütterliche fröhliche Herzlichkeit. Die sicher nicht als Hausfrau, perfekt war. Aber für mich schon. Mit einem Schmunzeln verbunden. Sie hat uns Kindern auch immer liebevoll Geschichten aus der Bibel nahegebracht. Bevor wir lesen konnten, kannten wir viele biblische Geschichten zuerst nur aus ihrem Mund. Sie konnte auch die Jesusgeschichten ganz schön spannend erzählen. Wie ein Anker gaben sie unserer kleinen familiären Erzählgemeinschaft Halt. Wenn unsere Mutter auf dem weiten Amrumer Sandstrand die Sturmstillung erzählte, dann konnten wir uns das mit dem Blick auf die Nordseewellen so richtig intensiv vorstellen. Wie Jesus schließlich Wind und Wellen beruhigte. Und damit die Angst seiner Freunde vertrieb. Wir liebten grad diese Geschichte. Zuerst aus ihrem Mund und irgendwann mal mit Bildern aus einer romantisch-kitschigen Kinderbibel. Wo Jesus dann sagt: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ (Lukas 4.40) Wenn diese Stelle in Mutters Erzählung kam, sagten wir als Kinder dann jedes Mal „doch!“ Ganz fest und überzeugt. „Wir haben keine Angst!“ „Klar, weil Jesus doch dabei ist!“. Im Nachhinein denke ich, diese schöne Bibelstelle hat meiner Mutter immer wieder Kraft gegeben, ihr Lächeln, ihre innere Ausgeglichenheit trotz allem, was sie erlebte, nicht zu verlieren. Klar doch, wird das auch unsere Mutter geglaubt haben. Es gibt Stürme, Untiefen. Aber in der Tiefe gehalten. Das ist ein Lebensgefühl, mit dem sich´s leben lässt. Dass mir hoffentlich oft ein Lächeln ins Gesicht zaubert, gerade heute am Muttertag.