GOTTESDIENSTÜBERTRAGUNGEN

Ein Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Dreieich-Götzenhain

Karfreitagsgottesdienst

Karfreitagsgottesdienst

aus der Evangelischen Kirche in Götzenhain

Liebe Hörer und Hörerinnen am Radio! Liebe Gemeinde!

Über jedem menschlichen Leben schwebt vom Tag der Geburt an die Gewissheit: Auch in diesem Leben wird es Leid, Gefahr, Angst und Verzweiflung geben. Davon erzählt auch eine Geschichte, die vom früheren Baseler Pfarrer Werner Reiser überliefert wird. Darin ist die Verzweiflung eine Person, der Jesus in seinem Leben immer wieder begegnet.

Als Jesus in der Krippe liegt, drängt sich unter den vielen Menschen auch eine düstere Gestalt hinzu. Alle, die sie sehen, weichen erschrocken zurück. Sie kennen sie aus ihren schmerzlichsten Stunden und haben ihretwegen schon viel gelitten. Es ist die Verzweiflung. Niemand will ihren schwarzen Mantel berühren. So schreitet sie ungehindert zur Krippe und beugt sich über sie. Entsetzt hält Maria ihre Hände über das Kind. Aber die Verzweiflung schaut nur stumm auf das Kind und sagt: „Wir werden uns wiedersehen.“ Dann wendet sie sich um und geht. Dreißig Jahre später wandert Jesus durch das Land. Wo er hinkommt, sieht er kranke, abgekämpfte, schuldbeladene und mutlose Menschen.

Ich sehe die alte Frau, die mir auf dem abgenutzten Sofa gegenüber sitzt. „Man darf nicht alt werden“, sagt sie. Ihre Hände zittern. Es ist kalt in dem kleinen Zimmer. „Ja, die Heizung funktioniert nicht mehr richtig. Aber niemand kümmert sich darum. Fünf Kinder hat sie geboren und großgezogen. Ein Junge ist bereits gestorben. Er wurde nur 19 Jahr alt. Sie hat sich um die Enkel gekümmert und alle in ihrem kleinen Haus aufgenommen. Für jeden war sie da, irgendwo fand sich immer noch ein Platz.

Vor ein paar Jahren hat sie ihren Mann verloren. Er war lange krank, aber sie waren immer zusammen, konnten alles miteinander teilen, alles mit einander tragen und bewältigen. Jetzt ist sie ganz allein. Zwei ihrer Kinder wohnen im Ausland. Das kleine Haus hat sie längst einer Tochter überschrieben. Sie hat versprochen,  für sie da zu sein und sie zu pflegen, wenn es nötig wird. Doch jetzt, wo sie einmal jemanden braucht,  hat niemand mehr Zeit.  Die alte Frau ist verzweifelt, ein paar Tränen rollen über ihr Gesicht. Soviel hat sie gegeben, und jetzt? Oft ist sie in die Kirche gegangen. Jetzt fällt es ihr schwer. Sie sagt: Ich bete jeden Tag. Warum hilft Gott mir nicht? Warum nimmt er mich nicht zu sich? Man darf nicht alt werden, sagt sie noch einmal. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?

Jesus fühlt mit den Menschen und fängt an, ihnen zu helfen. Er heilt Kranke, er stärkte die Müden, er vergibt denen, die Schuld auf sich geladen haben, und er ermuntert die, die keine Hoffnung mehr haben. Als Jesus eines Tages wieder von einer großen Volksmenge umgeben ist, schiebt sich eine, düstere Gestalt dazwischen. Sie trägt einen durchlöcherten Mantel und drängt mit spitzen Händen die Menschen zur Seite, bis sie vor Jesus steht. Da erkennen die Menschen sie.  Jesus aber schaut sie ruhig an. „Warum greifst du in mein Reich ein und störst meine Herrschaft?“ fragt sie. Jesus antwortet: „Dir ist keine Herrschaft über die Menschen gegeben. Sie gehören Gott und seiner Liebe.“

Da lacht die Verzweiflung und spricht: „Du hast meinen Mantel durchlöchert, du hast ihn aber nicht zerrissen. Dir aber werde ich alles entreißen. Wir werden uns bald wiedersehen.“ Dann wendet sie sich um und geht. Und es kommt die Nacht, in der er verraten wird. Da verlassen ihn alle und fliehen. Nur die Verzweiflung geht mit ihm. Als er in seiner bittersten Stunde allein ist, will er zu Gott schreien. Aber nichts kommt von seinen Lippen, als der verzweifelte Ruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Und er stirbt. Da lacht die Verzweiflung laut auf. Sie hat gewonnen. Jetzt tritt sie ihre Herrschaft über alle Menschen an.


Liebe Gemeinde!

Die Verzweiflung hat gewonnen. Das ist eine Erfahrung, die wir in unserem Leben immer wieder machen. Wir erleben schreckliche Dinge am eigenen Leib, in der Familie oder Bekanntschaft. Wir lesen und hören von Ereignissen, bei denen wir uns immer wieder fragen: wo bist du Gott?

Wir meinen: Wenn es einen Gott gibt, dann muss er doch helfen, muss eingreifen in dieses Schicksal, kann doch nicht einfach zu sehen und nichts tun. Wir erleben dann, wie unser Verhältnis zu Gott zerbricht und fragen: warum? Aber Jesus schreit am Kreuz nicht ins Leere.

Inmitten der tiefsten Verzweiflung trifft Jesus auf Gott. Sein Ruf aus der Tiefe hat einen Adressaten, hat ein Ziel: Mein Gott, mein Gott. Wer ein Gegenüber hat, dem er alles sagen kann, liebe Gemeinde, der hat noch nicht aufgegeben. Der schreit nicht vergebens, sondern vertraut darauf, da ist jemand, der mich hört, der mir Kraft gibt. Die Verzweiflung hat nicht wirklich gewonnen, wenn Gott auch in der Verzweiflung da ist. Gott ist auch ganz unten bei mir, im Leiden, im Tod, im Nichts. Weil es so ist, hat die Verzweiflung keinen Ort mehr, den sie alleine beanspruchen kann. Seitdem irrt sie in der Welt umher und kann überall und immer wieder Menschen schlagen und niederwerfen. Aber sie kann keinesfalls mehr Gott von den Menschen trennen.

In der tiefsten Verzweiflung kommt Gott uns ganz nah. Manchmal fällt es mir schwer, dass zu glauben. Und doch mache ich immer wieder die Erfahrung: Gott ist da, um mich in den Tiefen meines Lebens auf zu fangen. Wie tief ich auch falle, Gott ist immer schon da. Er versteht mich. Denn Jesus ist keine menschliche Regung fremd. Er hat am eigenen Leib alle Grausamkeit, alles, wozu Menschen fähig sind, erlitten. Deshalb kann er  uns tragen, was auch immer auf uns zukommen mag.

Stellen wir uns vor, liebe Gemeinde, Jesus wäre als ein alter Mann im Bett gestorben. Mit Recht würden viele sagen, der kann doch gar nicht mitreden. Der weiß doch gar nicht, was Schmerzen, Angst und Verzweiflung bedeuten. Aber er hat es selbst erlebt und musste es ertragen. So ist er uns Menschen nah wie kein anderer.

Die Verzweiflung ist noch da. Sie setzt uns nach wie vor zu. Immer wieder schreien und fragen wir: mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber die Verzweiflung hat jetzt keine Macht mehr über uns. Denn Gott ist immer schon da. In all unserem Leid, auf das wir keine Antworten finden, bleibt uns der Blick auf den gekreuzigten Jesus, der mit uns leidet und uns so die Hoffnung gibt, die wir mit Ostern geschenkt bekommen. Wir können uns in seine Arme werfen. Seine Liebe ist stärker als der Tod.

Vor ein paar Tagen rief mich die alte Frau, von der ich zu Beginn erzählt habe, an. „Ich habe jetzt eine kleine Wohnung in einem Altersheim gefunden“, berichtet sie mir. „Da ist es freundlich und hell und vor allen Dingen warm. Ich fühle mich hier wohl. Mein Enkel hat diesen schönen Platz für mich gefunden.“

So leuchtet schon jetzt Licht von Gottes neuer Welt in unsere hinein. Es zeigt uns, so wird es aussehen, wenn das Leben gewinnt und die Verzweiflung endgültig besiegt ist.