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Himmlisches Streaming
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Himmlisches Streaming

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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Überall liegt Musik in der Luft. Ich kann sie hören an jedem Ort der Welt. Ein Handy genügt und schon klingen Taylor Swift und Mozart in meinen Ohren, Nirwana und Reinhard Mey. Früher war das anders. Früher war Musik gebunden an den Ort, an dem sie gespielt wurde. Man konnte sie nur da hören, wo musiziert wurde - wenn jemand gerade gesungen hat oder wenn ein Orchester spielte. Später hatte man dann große Empfangsgeräte, Schallplatten und noch später CDs. Ich genieße das. Es gibt mir Freiheit. Musik - einfach überall.

Der Himmelfahrtstag ist ein „Überall-Tag“

Das denke ich besonders heute - am Himmelfahrtstag. Denn der Himmelfahrtstag ist ein „Überall-Tag“. Dieser Feiertag reicht noch viel weiter zurück als die Musikübertragung. Und er hat eine ähnliche Geschichte:

Vor 2000 Jahren mussten sich alle Menschen, die Jesus von Nazareth hören oder sehen wollten, auf den Weg zu ihm machen. Dorthin, wo er gerade war. Am See Genezareth oder in Kapernaum oder in Jerusalem. Nur dort konnten sie ihn hören und sehen. Die Bibel erzählt viele Geschichten davon, wie Menschen Jesus begegnet sind. Wie interessant das war und wie heilsam. Großartig für alle, die beweglich waren und ihn treffen konnten. Aber was war mit den vielen anderen, die das auch gern gehabt hätten? Sie mussten sich damit begnügen, was andere ihnen erzählten. Menschen, die zurückkamen, berichteten begeistert von ihrer Begegnung mit Jesus. Später haben sie angefangen, all das aufzuschreiben in Briefen und Berichten. So entstanden Medien auf Papier, in denen viele andere nachlesen konnten, was Menschen mit Jesus erlebt hatten.

Aber es gab noch eine andere, eine neue, eine überraschendende Verbindung. Denn es kam der Tag, den wir „Himmelfahrt“ nennen. Die Bibel erzählt: Jesus verabschiedet sich von seinen Jüngern. Und kündigt gleichzeitig an, bei ihnen zu sein - auf andere Weise. Im Geist. Überall und jederzeit erreichbar. Wie Musik, die wir streamen können, egal ob um Mitternacht oder am Frühstückstisch. Ich muss nicht nach Jerusalem reisen oder nach Rom oder nach Wittenberg.

Himmelfahrt ist kein Abschied, sondern jetzt ist Jesus zu jeder Zeit erreichbar

Ich stelle meinen Geist auf Empfang und bin gespannt. Ich finde den Vergleich mit heutiger Musikerfahrung viel ansprechender als alte Himmelfahrts-Bilder, wo Jesus abhebt und alles nur nach Abschied aussieht. Heute ist vielmehr ein Tag der Verbindung als ein Tag des Abschieds. Jesus braucht keinen Körper mehr an Ort und Stelle, er ist überall erreichbar.

Musik ist nicht mehr an Schallplatten oder CDs gebunden, sie erreicht uns überall. Geld muss im Ausland nicht mehr mühsam umgetauscht werden in fremde Scheine, es fließt von unserem Konto auf das des Gastwirts in Athen. Die Übertragung geschieht unsichtbar, quasi durch die Luft. Aber dann nimmt es wieder Gestalt an: die Musik lässt die Beine tanzen. Das Geld in Athen wird in der griechischen Küche zu leckerer Mousaka, zu Gyros und zu Joghurt mit Honig. Himmlisch.

Ganz ähnliche Ideen erkenne ich hinter der Geschichte von Jesu Himmelfahrt. Seine Worte vor 2000 Jahren, seine Zuwendung zu den Menschen, sein Widerstand gegen alle Formen von Hass und Habgier sind im Äther unterwegs, liegen in der Luft. Getragen von seinem Geist, inspirieren diese Worte Menschen an allen Orten der Erde zu ähnlichen Haltungen und Handlungen – bis heute. Die eigene Verbindung mit dem Geist Jesu treibt Menschen an, sich für andere einzusetzen. Im Namen Jesu unterrichten sie Kinder, bauen Brunnen und pflegen Kranke. In solchen Ereignissen ist Jesus gegenwärtig – viel mehr als nur eine Erinnerung an frühere Geschichten. Er ist da. Und verändert Leben heute. Und morgen.

Positives Streaming gegen böse Gedanken

Es könnte so gut sein. Wenn es nur nicht so viele Störsender gäbe. Kinder können nicht mehr zur Schule gehen, weil es militärische Auseinandersetzungen gibt, weil Schulen den Bomben zum Opfer fallen. Oder weil Machthaber etwas gegen Bildung haben. Weil Bildung ihre Macht bedroht. Oder Brunnen und Landwirtschaft leiden darunter, dass ganze Landregionen durch Plastik und Gifte vermüllt werden. Es gibt jede Menge Störsender, die gegen das Lebensprogramm Jesu eigenen Gewinn, eigene Macht und eigene Selbstbehauptung stellen.

Ich erlebe das Drama nicht nur in der Beobachtung anderer, sondern auch immer wieder in mir selbst. Ich höre üble Nachrichten und merke, wie sich in mir Aggression breitmacht. Ich wünsche fernen Machthabern und manchmal auch nahen Menschen spontan Sachen an den Hals, die meiner sonstigen Haltung widersprechen. Und eigentlich will ich das alles nicht, weil es sich wie eine innere Vergiftung anfühlt. Mir geht es nicht besser nach solchen Gewaltfantasien. Was tun? Es gibt aus alter kirchlicher Tradition ein sogenanntes „Herzensgebet“. Kurz und wiederholbar: „Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Wörtlich übersetzt kann man sagen: „Schau her, komm zu mir! Jesus: Schau her, komm.“ Fertig. Positives Streaming gegen böse Gedanken und Gefühle. Jesus, schau her, komm. Bei mir funktioniert das immer mal wieder. Weit besser als innerer Widerspruch gegen dunkle Gedanken, sie sind oft zäh. Zu sagen: „Geht weg!“ wirkt nicht, sie lachen darüber. Also brauche ich einen positiven Mitkämpfer. Jesus, schau her, komm!

Himmelfahrt als Ankunft Jesu in der Gegenwart, zum Beispiel in Form von Gebets-Streaming

Himmelfahrt ist für mich kein Abschied von Jesus in den Himmel, sondern die Ankunft Jesu in der Gegenwart. Heute. Und überall auf der Erde. An jedem Ort. Wie das geht? Zum Beispiel über Gebets-Streaming, so nenne ich das mal. Ich kann Jesus jederzeit erreichen – ganz praktisch. Und zwar auf zwei Arten: 

Die erste besteht darin, dass ich beim Beten rundweg alles erzählen kann, was mich beschäftigt. Wirklich alles. Wo sonst kann ich auch meine dunklen Gefühle und Gedanken zeigen und mitteilen? Wo sonst kann ich Aggression und Wut loswerden, ohne jemanden zu beschädigen? Und die guten Seiten des Lebens gehören dann auch noch dazu. Mir fallen beim Beten neben den miesen Sachen auch viele Gründe ein, dankbar zu sein.

Die zweite Art ist die Bitte um Hilfe. Geistes-Gegenwart im wörtlichen Sinn. Ich bitte um Gottes Geist der Weisheit und des Durchblicks. Darum, dass Jesus mir helfen möge, wenn ich täglich entscheiden muss, wie ich mich verhalte. Wie kann ich erkennen, was der richtige Weg ist, wo ich etwas bewirken kann? Und wo ist es für mich zu viel? Vielleicht verkämpfe ich mich sonst an Dingen, auf die ich gar keinen Einfluss habe. Manchmal erfüllt Gott meine Bitte. Dann bekomme ich im oder nach dem Beten Ideen, was ich anders machen könnte.

Jesus ist auf vielfältige Weise anzutreffen

Wenn das hin und wieder passiert, wächst in mir ein positives Grundgefühl im Leben: Ich stehe nicht allein vor meinen Herausforderungen. Ich bekomme Ideen, ich werde zuversichtlicher, manchmal kann ich mutiger in Konflikte gehen. Ich merke: Ich kann etwas bewirken, ich kann etwas zum Besseren wenden, wenn ich meine Möglichkeiten realistisch einschätze. Ich unterrichte an einem Seminar. Ich investiere meine Kräfte und versuche Menschen zu fördern, so gut ich es kann. Ich hoffe, dass mein Gegenüber davon profitiert. Entweder, indem er etwas mitnimmt von dem, was ich sage. Oder indem sie Widerspruch anmeldet und bessere Ideen hat.

Den Geist Jesu anzapfen, streamen, an seinem Überblick und an seiner Weisheit teilhaben: das geht, weil er an Himmelfahrt seine globale Gegenwart begonnen hat. Jesus ist auf vielfältige Weise anzutreffen: im Gebet, in der Lebenspraxis positiver Menschen oder dort, wo Hilfe gebraucht wird. Und: Wo Sehnsucht stark ist.

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