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Mehr als wir wahrnehmen
Bild: pixabay/RobertCheaib

Mehr als wir wahrnehmen

Kathrin Mantey
Ein Beitrag von Kathrin Mantey, Evangelische Pfarrerin, Marburg
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Es gibt viel mehr um uns herum, als wir wahrnehmen. Das habe ich an einem lauen Sommerabend erlebt: Wir sitzen mit Freunden und deren Kindern im Garten. In der Feuerschale lodern die Flammen, langsam wird es dämmrig. Wie fast immer um diese Zeit tauchen in der Abendluft hier und da Fledermäuse auf. Manche kommen ziemlich dicht an uns heran, andere fliegen weit oben am Himmel. Wir können sie kaum von den Vögeln unterscheiden, so schnell flattern sie vorbei. Gebannt verfolgen wir einen Moment lang das stille Schauspiel.

Fledermäuse rufen für Menschen lautlos

Plötzlich greift unser Freund Tobias nach seinem Rucksack und fragt: Wollt ihr mal hören, wie die klingen? Alle sind überrascht. Wie soll das gehen? Zwar wissen selbst die Kinder, dass Fledermäuse Signale senden, mit denen sie sich orientieren. Sie schicken Schallwellen aus, die zurückkommen, wenn sie auf ein Hindernis treffen. Auf diese Weise bewegen sie sich in der Natur auch ganz ohne Licht. Aber all das können wir doch nicht hören. Wenn Fledermäuse rufen, hören wir nur Stille!

Doch unser Freund zieht ein kleines Gerät hervor und plötzlich ertönen seltsame Laute: Ein schnelles Knattern nähert sich – und wird wieder leise. Dann erklingen langsamere, tiefere Töne, werden lauter und verschwinden. „Hört ihr“, sagt Tobias erfreut: „Das ist die kleine Zwergfledermaus. Und das danach, das sind ziemlich sicher die Töne der Breitflügelfledermaus.“

Ein Spezialgerät macht die Töne hörbar

Tobias weiß da Bescheid. Er ist Biologe von Beruf.  Das erklärt auch, warum er so ein Spezialgerät dabeihat: Es übersetzt die hohen Fledermaus-Rufe in tiefere Frequenzen, die unsere Ohren hören können. Jede Art klingt anders. Zwar braucht es schon Übung, um zu wissen, welche Fledermaus da gerade ruft. Man muss sich gut mit diesen Tieren auskennen. Aber dann kann kriegt man eine Menge mit. Wie wir, als plötzlich die Rufe von einem seltsamen Schnarren unterbrochen werden: Tatatatata rrrrrrt klingt es aus dem Gerät. Unser Experte erklärt: „Da hat eine Fledermaus gerade mitten im Flug ein Insekt gefangen und verspeist!“ Dank Tobias haben wir bei etwas zugehört, was wir sonst überhaupt nicht bemerken würden!

Ja, es gibt viel mehr um uns herum, als wir wahrnehmen, denke ich. Und bin in diesem Moment unserem Freund sehr dankbar. Er hat mir die Ohren geöffnet für ein Naturschauspiel, direkt vor meiner Nase, in meinem eigenen Garten.

Musik

Die Emmausjünger konnten Jesus nicht wahrnemen

Es gibt viel mehr um uns herum, als wir wahrnehmen. Und manchmal treffen wir Menschen, die unsere Ohren oder Augen dafür öffnen. Darum geht es auch an Ostern in einer Geschichte aus der Bibel:

Zwei Männer sind zu Fuß unterwegs von Jerusalem nach Emmaus. Beide sind bedrückt: Sie trauern um Jesus, ihren Freund, der vor drei Tagen in Jerusalem am Kreuz hingerichtet worden ist. Einfach unbegreiflich: Sie hatten doch so große Hoffnungen in ihn gesetzt. Mit ihm sollte eine neue Zeit anbrechen. Menschen sollten erleben, wie Gott sie liebt und diese Liebe weitergeben. Aber nun ist ihr Freund tot, ja schlimmer noch: Sein Grab ist anscheinend leer und sie wissen noch nicht einmal, wo sie um den Verstorbenen trauern können.

Während die Beiden darüber sprechen, gesellt sich ein Mann zu ihnen. Es ist Jesus selbst. Aber die beiden halten ihn für einen Fremden. Sie erkennen ihn nicht. Sie haben zwar in Jerusalem das Gerücht gehört, dass er auferstanden sei. Trotzdem nehmen sie nicht wahr, wer er ist. So, wie wir manchmal etwas einfach nicht wahrnehmen können. Oder nicht von allein darauf kommen.

Das Brotbrechen machte Jesus erkennbar

Umgekehrt nimmt Jesus sie aberwahr. Er spürt, wie enttäuscht und ratlos sie sind. Deshalb fragt er: Was bedrückt euch? Und sie erzählen, was sie traurig macht. Er hört ihnen zu und versucht, ihnen die Ereignisse in Jerusalem zu erklären. Er sagt: „Es musste alles so kommen. Es hat alles einen Sinn. So hat es doch schon ein Prophet vor langer Zeit vorausgesagt. Gottes Sohn musste am Kreuz leiden, aber nun ist er auferstanden.

Aber die Beiden verstehen den Fremden nicht und bleiben niedergeschlagen. Schließlich erreichen sie ihr Haus und laden ihn zu sich ein. Als sie am Tisch sitzen, nimmt der Fremde das Brot, bricht für jeden etwas ab und verteilt den Wein. Da passiert es: In diesem Moment erkennen sie ihn! Es ist Jesus! Genau so hat er früher das Brot gebrochen und den Wein eingegossen. Die Männer erkennen: Jesus lebt, er ist verwandelt, aber trotzdem bei ihnen. Er selbst hat ihnen die Augen dafür geöffnet. Und dann - verschwindet er.

Jesus' Erscheinen gibt Hoffnung

Trotzdem sind sie getröstet: Sie haben erlebt, dass da viel mehr ist, als sie dachten. Jesus ist weiter an ihrer Seite, wenn auch anders als zuvor. Indem er sich zeigt, bekräftigt er ihre Hoffnung auf ein Leben, das von Liebe und Frieden geprägt ist. Ein Leben, das der Tod nicht zerstören kann. Mit Brot und Wein öffnet er nicht nur ihre Augen, sondern auch ihre Herzen. Und so stehen die Männer vom Tisch auf und gehen nach Jerusalem zurück. Das, was sie erlebt haben, wollen sie so schnell wie möglich weitersagen.  

Musik

Durch Hilfsmittel eröffnen sich neue Perspektiven

Es gibt viel mehr um uns herum, als wir wahrnehmen. Aber mit etwas Hilfe können wir den Blick weiten oder eine tiefere Bedeutung verstehen. Bei den Fledermäusen geschieht das mit einem Gerät, das ihre Geräusche für uns hörbar macht.

In der Ostergeschichte ist es Jesus selbst, der den Männern aus Emmaus eine neue Perspektive schenkt. Er braucht keine Technik, aber auch er hat Hilfsmittel: Durch Brot und Wein spüren seine Freunde mit allen Sinnen die Gemeinschaft, die sie mit ihm verbindet. Sie erinnern sich: So echt und lebensnah, wie man Brot kaut und Wein trinkt, sind sie miteinander verbunden. Wenn Christinnen und Christen an Ostern im Gottesdienst Abendmahl feiern, dann stellen sie sich in den Kreis dieser Gemeinschaft. Sie feiern, dass Jesus mit seiner Liebe gegenwärtig ist.

Eine Osternacht mit Überraschung

Das habe ich in einem Ostergottesdienst einmal auf ganz besondere Weise erlebt: Wir feiern die Osternacht in der Elisabethkirche in Marburg. Wir hören die Botschaft: Jesus ist auferstanden! Nach dem Gottesdienst gehen wir kurz nach Mitternacht draußen vor die Kirche. Dort brennt in dieser Nacht ein Osterfeuer und es gibt Punsch zu trinken. In diesem Jahr sind auch einige Menschen aus der Ukraine im Gottesdienst. Jetzt warten sie am Ausgang auf die übrigen Kirchenbesucher. Sie haben eine Überraschung dabei: jede Menge von ihrem traditionellen Osterbrot, das sie nun verschenken.

Eine besondere Beziehung ist entstanden

Ganz bewusst haben sie diesen Gottesdienst ausgesucht, um sich bei der Elisabeth-Gemeinde zu bedanken. Denn sie nehmen war: Hier sind wir willkommen. Hier beten Menschen gemeinsam mit ihnen regelmäßig für den Frieden. Und in der Andachtsecke hat jemand eine ukrainische Ikone aufgehängt, damit sich die orthodoxen Gläubigen, die vor dem Krieg geflohen sind, etwas heimisch fühlen. In der Kirchengemeinde sind viele gute Kontakte entstanden, trotz fremder Sprache und anderer Kultur. Die ukrainischen Menschen, die jetzt die bunten Küchlein verteilen, haben das dankbar wahrgenommen. Und nun wollen sie etwas zurückgeben, damit auch die Gemeinde wahrnimmt: Zwischen uns ist eine besondere Beziehung entstanden. Und was würde sich besser eignen, als an Ostern miteinander Brot zu teilen?

Hoffnung auf ein Leben in Liebe und Frieden

Viele sind freudig überrascht und probieren sofort die leckeren Teilchen. Auch ich lasse es mir schmecken. Und plötzlich merke ich: Wir alle teilen hier mehr als nur Osterbrot und Punsch. Wir teilen die Hoffnung auf ein Leben, das von Liebe und Frieden geprägt ist. In diesem Moment ist für mich Jesus lebendig!

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