Gesegnete Allerseelen
An einem Sonntagmorgen saß ich in der Kirche und hab auf den Beginn des Gottesdienstes gewartet. Aber der Pfarrer kam nicht. Nach ein paar Minuten hat sich Unruhe in den Bänken geregt. Wo bleibt er denn? Sein Auto stand doch vor der Tür? Nach etwa zehn Minuten kam er endlich aus der Sakristei. Er hatte verweinte Augen, und ich hab gemerkt: Der ist ganz außer Fasson. Da muss etwas passiert sein. Alle waren ziemlich betreten. Dann hat er die Messe aber doch mit der Grußformel „Der Herr sei mit euch“ eröffnet, und als die Gemeinde dann wie üblich „Und mit deinem Geiste“ geantwortet hat, löste sich die allgemeine Anspannung. Denn Riten stiften Gemeinschaft und vermitteln ein Zugehörigkeitsgefühl. Und im Fortgang der Messe merkte man deutlich, wie auch der Pfarrer langsam wieder innerlich Tritt gefasst hat und sich auf den vorgegebenen Ablauf der Liturgie konzentrierte. Beim Schlusssegen war er wieder ganz gefasst. Später habe ich erfahren: Er hatte kurz vorher die Nachricht bekommen, dass seine Mutter gerade gestorben ist.
Rituale und Gesten geben wertvollen Halt
Mir ist an dem Morgen nochmal bewusst geworden, wie wertvoll es ist, wenn man Formen, Formeln, Rituale und Gesten hat. Und wenn man sie wie selbstverständlich mitvollzieht. Sie geben dem Gottesdienst und dem Leben einen festen Rahmen. Sie ist kein bloßes Brimborium. Sie weisen allen Teilnehmenden eine bestimmte Rolle zu. Nichts ist zufällig, alles hat seinen Sinn. Kein Wort zu viel, aber auch keines zu wenig. Es ist ganz unabhängig, ob der Pfarrer extrovertiert ist oder scheu, ob er gerade eine Krise durchlebt oder ob er in sich ruht. Die katholische Liturgie bleibt sich im Wesentlichen gleich. Sie lebt von der Wiederholung. Und im Fall der katholischen Messliturgie ist sie sogar global.
Meine Gedanken und Gefühle finden einen Ankerpunkt
Und trotz oder gerade wegen der gebundenen Form kann ich mich in ihr innerlich bewegen und meine eigenen Gedanken und Gefühle eintragen. Sie finden hier einen Ankerpunkt und überwältigen mich deswegen nicht bis auf den Grund. Gemeinschaftliche Rituale und individuelles Empfinden schließen sich zusammen. Das konnten wir an dem Morgen hautnah erleben.
Die Gemeinschaft schließt auch die Verstorbenen ein
Gerade an diesem Samstag, an dem die katholische Kirche den Tag „Allerseelen“ begeht, findet auch das öffentliche Gedenken an alle Verstorbenen eine spezifische liturgische Form. In meinem Wohnort wird es heute Nachmittag in der Friedhofskapelle eine Andacht geben, bei der die Namen der Gemeindemitglieder verlesen werden, die in diesem Jahr gestorben sind. Danach geht der Geistliche von Grab zu Grab, besprengt es mit Weihwasser und segnet jedes einzelne. Die Angehörigen stehen am Grab ihrer Familie und erwarten den Segen. Manche sehen sich nur einmal im Jahr bei dieser Gelegenheit und kommen deswegen von weiter her. Ich bemerke immer, wie gelöst die Stimmung nach dieser Zeremonie ist. Die Gemeinschaft, die hier erlebt wird, schließt auch die Verstorbenen mit ein. Sie sollen nicht vergessen werden.
Die gleiche Segensformel verbindet unterschiedliche Individuen
Bei der liturgischen Segensformel an den Gräbern werden die Verstorbenen zunächst beim Namen genannt. Dann heißt es: „Der Herr vollende in dir, was er in der Taufe begonnen hat.“
Da ist sie wieder: Die Verbindung von Form und Inhalt. Die Form ist immer dieselbe, und dennoch gilt ihr Inhalt jedem Verstorbenen ganz individuell. Für mich steht dahinter die österliche Hoffnung: Der Tod hat nicht das letzte Wort.