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Kleine Kraft, große Wirkung
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Kleine Kraft, große Wirkung

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Wonnemonat Mai. Die Luft riecht nach Frühsommer. Die Rosen blühen und es gibt  heimische Erdbeeren. Ich liebe diese Jahreszeit. Die Natur ist noch zart, die Blätter an den Bäumen sind hellgrün, und irgendwie wirkt die Natur noch so unverbraucht.

Auf dem Balkon Frühlingsluft atmen

Ich singe in dieser Jahreszeit gern ein Lied, auch am Pfingstmontag heute. Es heißt: „Geh aus, mein Herz und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit“. Ja, manchmal hüpft mein Herz morgens vor Freude, wenn die Sonne durchs Fenster scheint. Dann gehe ich noch im Schlafanzug auf den Balkon und atme die Frühlingsluft ein. Frankfurter Frühlingsluft.

Ich wohne zwar in einem ruhigen Stadtviertel, aber doch mittendrin. Von meinem Balkon sehe ich die Hochhäuser und blicke auf einen gepflasterten Schulhof. An sonnigen Tagen bemerke ich nicht, dass da das Grün fehlt. Wenn der Himmel grau ist, fällt mir das mehr auf: Kein Baum. Nur Beton, versiegelte Flächen.

An schönen Tagen übersiht man gerne den Müll

Klar gibt es in der Nähe auch Parks und Grünflächen. Aber wenn ich genauer hinschaue, da liegt unter vielen Büschen Müll, alte Kleidung oder leere Flaschen. An manchen Tagen bemerke ich das gar nicht. An anderen Tagen sehe ich hin und ärgere ich mich richtig darüber.

200 Fußballfelder voller Müll in Indonesien

Und der Müll in meiner Nachbarschaft ist ja noch das kleinere Problem. In Indonesien gibt es eine Müllhalde, die so groß ist wie 200 Fußballfelder.

Da bleibt mir die Sprache weg. 200 Fußballfelder voller Müll. Das Schlimme daran ist: Ich weiß, dass das nicht nur Müll von anderen ist, sondern es könnte auch eine Shampoo-Flasche von mir mit dabei sein. Deutschland exportiert jede Menge Müll in andere Länder, vor allem in die Türkei und nach Südostasien.

Ich möchte diese Gedanken am liebsten schnell wegschieben. Denn sie passen nicht in den Wonnemonat Mai. Sie passen nicht zum Frühling und auch nicht zu einem Feiertag wie heute. Ich möchte mich lieber unbeschwert in meine Hängematte legen und mich entspannen. Das Thema ist zu groß und zu komplex. Da lässt sich nichts machen. Oder vielleicht doch?

Musik 1

Wir sollten uns nicht mit dem Müll in unsrer Umgeben abfinden

Wenn ich in diesen Tagen durch die Straßen laufe, freue ich mich über den Frühling und das helle Grün an den Bäumen. Leider liegt in Frankfurt in den Blumenrabatten und unter den Büschen auch jede Menge Müll. Ich weiß, dass das nicht nur in Frankfurt so ist, sondern auch in anderen Städten und Dörfern. Ich möchte mich nicht damit abfinden. Nicht achselzuckend weitergehen. Schließlich lebe ich hier.

„Irgendetwas, Irgendwann“

Die Amerikanerin Amanda Gorman hat zu diesem Thema ein wunderschönes Buch geschrieben. Sie ist 25 Jahre und malt mit Worten. Viele kennen Amanda Gorman, weil sie eine Rede bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden gehalten hat. Ihre Worte sind poetisch und glasklar.

In ihrem Buch mit dem Titel „Irgendetwas, Irgendwann“ ist auf der ersten Seite eine gelbe Blume abgebildet. Um die Blume herum liegen Plastikflaschen, Einwegtüten und Pappbecher.

Amanda Gorman schreibt:
„Alle sagen, das sei kein Problem.
Aber du bist sicher, da stimmt etwas nicht.
Alle sagen, da kannst du nichts machen.
Aber du weißt, dass du helfen kannst.
Alle sagen, das Problem ist zu groß für dich.
Doch du hast gesehen, schon kleinste Dinge können viel bewegen.“[1]

Mutige Worte von Amanda Gorman

Ich finde diese Zeilen mutig. Denn sie schieben das mulmige Gefühl nicht einfach weg, das ich habe. Die Worte von Amanda Gorman geben mir Kraft zu überlegen: Was kann ich denn tun? Was kann ich tun mit meiner kleinen Kraft?

Den Müllberg in Indonesien, 200 Fußballfelder voller Plastikflaschen und Unrat, kann ich nicht beseitigen. Aber ich kann meine Wahrnehmung schulen. Mich nicht damit zufriedengeben, dass es solche Berge gibt und Menschen, die auf ihnen leben.

Die Geschichte vom Senfkorn

Ich denke an eine Geschichte, die Jesus erzählt hat. Er hat dabei vermutlich in seiner Hand ein Senfkorn gehalten. Es ist winzig klein. Jesus sagt: „Wenn das Senfkorn ausgesät wird, ist es das kleinste unter allen Samenkörnern auf der Erde. Und dann, wenn es aufgeht, dann ist es größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, so dass die Vögel unter seinem Schatten wohnen können.“ (Markus 4, 31f.)

Das Senfkorn steht für Hoffnung

Das Senfkorn steht für die Hoffnung, dass kleine Dinge Großes bewirken können. Dieser Gedanke gefällt mir, denn oft denke ich: Ich kann eh nichts machen. Dann fühle ich mich ohnmächtig und die Probleme wiegen so schwer. Wer ein Senfkorn in die Erde legt, hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich Dinge ändern können.

Hoffnung auf Veränderung – durch den Heiligen Geist

An Pfingsten feiern Christinnen und Christen diese Hoffnung auf Veränderung – durch den Heiligen Geist. Es ist diese göttliche Geistkraft, die mir Hoffnung macht und mich stärkt.

In den Worten von Amanda Gorman klingt das so:
Und vielleicht,
nur vielleicht,
wächst auch eine Hoffnung.
Alle sagen, mach dir keine Hoffnung,
doch du hoffst trotzdem.

Worauf ich hoffe und wo ich in der vergangenen Woche selbst ein Samenkorn eingepflanzt habe, davon erzähle ich nach der Musik.

Musik 2

Es braucht Mut, um Hoffnung zu säen

Ich möchte Hoffnung säen. Mit meinen Händen möchte ich anpacken und Dinge verändern. Dazu braucht es Mut und andere Menschen, die sagen: Lass es uns zusammen angehen.

Die amerikanische Dichterin Amanda Gorman beschreibt das auf ihre Weise.
Sie sagt:
Manchmal fühlst du dich allein.
Doch irgendwann, irgendwo
Findest du eine Freundin
Eine Person, die mit dir hofft
Die an deinen Traum glaubt.
Die an deiner Seite steht.

Irgendwann und irgendwo findet man Gekichgesinnte, die mitanpacken

Dieses Irgendwann und Irgendwo ist für mich konkret geworden. Irgendwann war letztes Jahr und irgendwo war das Außengelände der Kirche, in der ich arbeite. Dort standen übergangsweise große Container, in denen eine KiTa untergebracht war. Als die KiTa die Räume nicht mehr brauchte, wurden die Container abgeholt – und zurück blieb eine riesige Brache. Was tun? Mir kam die Idee, dort ein Gartenprojekt zu beginnen.

Ein Gartenprojekt nimmt Gestalt an

Und es schlossen sich gleich mehrere Leute an, die sagten: Tolle Idee, ich mach mit! Wir zogen Handschuhe an und entmüllten erstmal das große Gelände. Unter den Büschen holten wir Plastiktüten, Dosen, Bonbonpapier, Bäckertüten und viel anderen Müll hervor. Wir schnitten die Hecken zurück, legten einen Kompost an und bestellten eine große Fuhre Erde. Und dann ging es los: Mit Harke und Schaufel lockerten wird den steinharten Boden und legten Hummus drauf. Schubkarre um Schubkarre füllte sich der Platz mit neuer Erde. Und dann säten wir Rasen aus und bauten die ersten Hochbeete.

Der Hoffnungsgarten - Ein Urban Gardening Projekt

Aus der Brache ist seit letztem Frühjahr ein großer Garten entstanden. Wir nennen ihn Hoffnungsgarten. Ein Urban Gardening Projekt mitten in Frankfurt, umringt von Hochhäusern. Mit vielen Stunden Arbeit kümmern sich Ehrenamtliche der Kirchengemeinde und Leute aus der Nachbarschaft liebevoll um diese Oase. Letzten Sommer konnten wir Berge an frischem Salat ernten, Radieschen, Tomaten und sogar Auberginen und Paprika.

Die neue Saison hat begonnen

Vor ein paar Wochen hat unsere zweite Saison begonnen. Einige Leute vom letzten Jahr haben sich verabschiedet, neue Leute sind dazu gekommen. Wir haben die Büsche entmüllt, den Boden beackert, Beikraut entfernt und kleine Samenkörner in die Erde gelegt.

Gottes Geist bringt Menschen zusammen

Es ist wunderbar, wenn es Menschen gibt, die einen Traum teilen. Die von einem guten Geist erfüllt sind, von Gottes Geist, von Hoffnung.

Und ich überlege, was bei mir wachsen kann und Hoffnung schenkt. Für mich ist der ganze Hoffnungsgarten wie ein Senfkorn. Zwischen Hochhäusern, mitten in einer Brache ist eine Oase entstanden. Sie lässt aus steinigem Boden Pflanzen wachsen und sie bringt Menschen zusammen, die sich vorher noch nicht kannten. Ich glaube: In diesem Garten weht Gottes Geist und verändert die Welt im Kleinen.

Schon kleinste Dinge können bewegen

Und es stimmt, was Amanda Gorman sagt:
Alle sagen, das Problem ist zu groß für dich.
Doch du hast gesehen, schon kleinste Dinge können viel bewegen.


[1] Amanda Gorman, Irgendetwas, irgendwann (Hoffmann und Campe 2023).

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