hr4 ÜBRIGENS
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

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Letze Freunde im Leben

Letze Freunde im Leben

Das Geschäft ist voller Kunden. Die Gänge sind eng. Die alte Dame schiebt sich an Zeitschriften und Büchern vorbei. Sie ist klein, ihr Rücken krumm. Den Rollator hat sie fest in den Händen. Bloß nicht hinfallen. Es geht langsam voran. Sie weiß aber, was sie will. Schritt für Schritt nähert sie sich einem Regal. Sie muss sich strecken, dann hat sie ihr Büchlein. Nicht groß, nicht teuer. Aber bunt. Sie legt es auf den Rollator. Wieder geht es voran, langsam. Sie nähert sich der Kasse. Als sie an der Reihe ist, legt sie das Buch auf den Tisch. Es kostet vier Euro und 95 Cent. Ein großes Bild ist auf dem Büchlein. Dazu der Titel: „Wellensittiche“.

Sind wohl ihre letzten Freunde im Leben, denke ich. Und irre mich. Mache die Rechnung ohne den lieben Gott. Die alte Dame muss an ihr Portemonnaie, ganz unten im Korb des Rollators. Das dauert. Dann vier Euro und 95 Cent abzählen. Das dauert nochmal. Manche Kunden werden ungeduldig. Einer nicht. Der junge Mann an der Kasse. Ein neuer Freund, wie es scheint. Er strahlt die Dame an, wechselt ein paar Sätze mit ihr, überbrückt die Zeit mit Scherzen. Die Dame sucht Münzen, antwortet knapp, muss sich konzentrieren. Plötzlich lacht sie. Der junge Mann hat sie auf Anfang sechzig geschätzt. Junger Mann, lacht sie, machen sie keine Scherze mit mir. Das Geld ist jetzt abgezählt. Die Handschuhe sitzen wieder fest über den Fingern. Das Buch über Wellensittiche ist verstaut. Sie will gehen. Ihr neuer Freund hat aber noch Zeit. Passen Sie gut auf, sagt er, es könnte glatt sein draußen.

Danke, sagt sie, und schiebt sich an der Kasse vorbei. Dann stockt sie, dreht sich noch einmal um und schaut dem jungen Mann von schräg unten ins Gesicht. Danke, sagt sie, wegen Ihnen lohnt sich der Tag heute. Auch wegen der Wellensittiche, denke ich, die Zuhause warten. Und wegen aller, die solch eine Engelsgeduld haben mit uns.