Wenn ich an Walter denke...
Wenn ich an Walter denke, fällt mir als erstes sein Kopf ein. Der war richtig groß. Doppelkopf nannten ihn einige Schüler. Walter war stolz auf den Spitznamen und auf seine Arbeit als Hausmeister an meiner Schule. Er sorgte für Ordnung, für Kuchen und Getränke. Immer in der großen Pause machte er seinen Verkaufsstand auf. Eine lange Schlange von Schülern verschaffte ihm Umsatz und Nebenverdienst. Walter lebte gut. War aber auch traurig.
Weil er Witwer war, schon lange. Vor zehn Jahren starb seine Frau. Walter war allein mit seinen zwei Mädchen. Später bekam er den Hausmeisterposten und kümmerte sich auch um die Schule. Als ich ihn kennenlernte, war er fünfzig und ich sechzehn. Manchmal war Walter voller Leben, dann wieder gebückt und bedrückt. Nach dem Abitur habe ich ihn mal besucht, in seinem Schrebergarten. Dorthin lud er Schüler ein, die er mochte. Zu viert waren wir. Ich weiß das noch genau, weil Walter Limonade anbot, selbst gemacht. Das kannte ich nicht. Und Leberwurstbrote. An diesem Tag war er zufrieden mit sich, Gott und der Welt. Und sagte zu uns jungen Leuten, die wir vom Leben wenig Ahnung hatten: Man kann das Unglück nicht verhindern. Man kann aber verhindern, dass es einen unglücklich macht. So wollte er leben, der Walter. Möglichst nicht unglücklich, trotz seines Unglücks. Den Satz vergisst man nicht. Der schreibt sich ins Herz, sozusagen. Zumal damals eine Mitschülerin gestorben war bei einem Autounfall. Ich kannte auch die Eltern und ihren Schmerz. Geholfen hat ihnen arbeiten und beten. Wie bei Walter. Gesprochen hat er davon nie. Gespürt habe ich das. Weil Beten auf die Beine hilft. Im übertragenen Sinn. Beten weitet das Herz. Man sieht und fühlt mehr als nur sich selbst. So war Walter. Er wurde froh, wenn er mit den Schülern lebte, lachte, sie zu sich einlud. Vor Kummer nur sitzen bleiben war nichts für Walter. Lieber nahm er den Tag in seine Hände. Mit Gottes Hilfe.
Wenn ich an Walter denke, fällt mir ein, was ihn glücklich machte, wie er Schmerz überwunden hat. Er hat sich einfach geweigert, unglücklich zu werden. Mit Gottes Hilfe. Hat immer in die Gesichter der anderen gesehen. Das hielt ihn hellwach. Am meisten sein großes Herz.